Ansprache Feierstunde

Feierstunde der Bundesregierung und der Stiftung 20. Juli 1944 am 20. Juli 2023 um 12:00 Uhr im Ehrenhof des Bendlerblocks, Berlin, anlässlich des 79. Jahrestages des 20. Juli 1944


-Boris Pistorius, Bundesminister der Verteidigung-



Liebe Angehörige der Stiftung 20. Juli 1944,
Exzellenzen,
Sehr geehrte Repräsentantinnen und Repräsentanten aus Bund und Ländern,
Meine sehr geehrten Damen und Herren!


Heute jähren sich das Attentat auf Adolf Hitler und die Operation Walküre vom 20. Juli 1944zum 79. Mal.


Hinter diesem Akt des militärischen Widerstands standen rund 200 Unterstützerinnen und Unterstützer aus den verschiedenen Bereichen der Gesellschaft: Mutige Männer und Frauen, Soldaten und Zivilisten, die aus humanistischen, religiösen oder politischen Überzeugungen den Weg in den Widerstand fanden und die vor allem zwei Dinge einte:


Zum einen: Die Erkenntnis, dass der Krieg und die Gewaltherrschaft des NS-Regimes beendet und nach ihren eigenen Worten die „Majestät des Rechts“ wiederhergestellt werden mussten.


Und zum anderen: Eine tief empfundene Scham und Empörung über die Verbrechen, die im Namen Deutschlands an den Menschen in Europa und darüber hinaus verübt wurden.


Noch in der Nacht zum 21. Juli 1944 wurde Claus Schenk Graf von Stauffenberg zusammen mit seinen engsten Vertrauten Werner von Haeften, Albrecht Ritter Mertz von Quirnheim und Friedrich Olbricht hier im Hof des Bendlerblocks hingerichtet.


Ludwig Beck war kurz zuvor zum Selbstmord gezwungen und nach dessen Scheitern von einem Wehrmachtssoldaten erschossen worden.


Viele der Unterstützerinnen und Unterstützerwurden im Laufe der kommenden Wochen und Monate hingerichtet oder in den Konzentrationslagern zu Tode gequält.


Sie alle hinterließen Eltern, Ehepartner, Kinder und Freunde, die neben dem Schmerz und der Trauer über den Verlust auch schwere Repressionen des Nazi-Regimes und die Ächtung der Gesellschaft ertragen mussten.


Die Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfer vom 20. Juli 1944 wussten, wie gering die Erfolgsaussichten für Attentat und Staatsstreich waren. Und sie rangen mit sich, viele bis zum Schluss, aus unterschiedlichen Gründen. Und doch siegten, wenn auch spät in der Zeit der Nazi-Herrschaft, ihr Gewissen, ihr Mut und ihre Entschlossenheit über letzte Zweifel: Und sie schritten zur Tat.


Attentat und Operation Walküre misslangen. Doch war das Handeln der mutigen Männer und Frauen nicht sinnlos. Nein, sie setzten ein Zeichen, für die Nachwelt und für die Geschichte, dass es da auch ein anderes Deutschland gab.


Die Gruppe um Graf von Stauffenberg und all Jene, die den Anstand, die Kraft und die Überzeugung zum Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime hatten, sind uns bis heute Vorbild und werden es bleiben.


Dabei ist der militärische Widerstand gegen Adolf Hitler auch noch in den ersten Nachkriegsjahren keineswegs unumstritten gewesen. Vielen galten die Frauen und Männer des 20. Juli 1944 nicht als Helden, sondern als Verräter.


Vor allem ab den 1960er Jahren aber fand ihre Gewissensentscheidung nach und nach die Anerkennung, die sie verdiente. Im Jahr 1968 bekam sie als sogenanntes Widerstandsrecht sogar Verfassungsrang: Ein wesentliches Element unserer heutigen Verfassung.


Ein Element unserer Verfassung, das unser aller Wachsamkeit und Aufmerksamkeit bedarf angesichts dessen, was wir gerade auch gehört haben: Nämlich, dass es Menschen gibt, die dieses Widerstandsrecht für ihre rechtlosen und rechtswidrigen und demokratiegefährdenden Bestrebungen missbrauchen wollen.


Diese nachträgliche Anerkennung schließt eine kritische Würdigung der Beteiligten vom 20. Juli 1944 keineswegs aus: Zu Recht kann und muss darauf hingewiesen werden, dass viele von ihnen das Hitler-Regime lange unterstützt hatten und teilweise sogar an den Verbrechen der Nationalsozialisten beteiligt waren.


Aber sie erkannten die Unrechtmäßigkeit des eigenen Handelns und hatten die Größe und den Mut, daraus die richtigen Konsequenzen zu ziehen: Den Weg in den Widerstand und die Bereitschaft, das eigene Leben für die Beendigung von Unrecht und Gewalt zu lassen.


Für das Traditionsverständnis der Bundeswehr ist der militärische Widerstand vom 20. Juli 1944 eine tragende Säule. Er mahnt uns, dass das Gewissen immer die letzte Entscheidungsinstanz ist–und dass das eigene Denken damit stets eine herausragend wichtige Pflicht ist.


Unsere Soldatinnen und Soldaten sind Staatsbürgerinnen und Staatsbürger in Uniform. Staatsbürgerinnen und Staatsbürger in Uniform, die die Demokratie und ihre Werte selbstleben. Die in der Lage sind, Recht von Unrecht zu unterscheiden. Und die wissen, wofür sie einstehen und was sie im Ernstfall auch mit ihrem Leben zu verteidigen bereit sein müssen.


Meine sehr geehrten Damen und Herren,


heute erweisen wir all denen unsere Ehre, die sich gegen das verbrecherische Nazi-Regime aufgelehnt und ihm ihre Menschlichkeit und ihr Gewissen entgegengesetzt haben.


Als Erinnerung an die tapferen Widerstandskämpfer vom 20. Juli 1944. Als Mahnung und als Versprechen, dass von Deutschland nie wieder Unrecht ausgehen darf. Und als Verpflichtung, niemals unsere Verantwortung für das freiheitliche, demokratische und offene Deutschland zu vergessen.


Dieses Gedenken ist kein Selbstzweck. Es ist das Versprechen, dass das Opfer der Widerstandskämpfer nicht vergebens war. Es ist das Versprechen, dass jeder Einzelne von uns und wir als Gesellschaft daraus lernen, und in der Gegenwart achtsam und wehrhaft sind, und es auch in Zukunft bleiben werden.


Helmut Schmidt hat diese Verantwortung einmal so zusammengefasst: „Wenn man die Wiederholung der Schrecken verhindern will, dann verlangt das von uns Wachsamkeit, die Wachsamkeit aller Demokraten“.


Das gilt heute, meine Damen und Herren, mehr denn je. Unsere Sicherheit, unsere Freiheit, unsere Demokratie und unser Rechtsstaat stehen erneut unter Druck, von innen wie von außen: In einem Maße, das wir seit Jahrzehnten nicht erlebt haben. Sie müssen jeden Tag aufs Neue geschützt, gepflegt und, ja, verteidigt werden.


Der 24. Februar des vergangenen Jahres hat uns das schmerzlich in Erinnerung gerufen.


Putin hat den Krieg über die Ukraine zurück nach Europa gebracht. Er hat die internationale regelbasierte Ordnung auf eine Weise attackiert, die wir auf unserem Kontinent überwunden glaubten.


Die tapferen Ukrainerinnen und Ukrainer verteidigen ihr Land und ihre Freiheit in mutiger, bewundernswerter Entschlossenheit. Und wir unterstützen sie dabei: In der gemeinsamen Gewissheit, Recht, Ordnung und Freiheit zu verteidigen. So lange, wie es gegen ein aggressives Russland nötig ist, dass das Völker- und Menschenrecht mit Füßen tritt.


Meine sehr geehrten Damen und Herren,


für all Jene, die den Zweiten Weltkrieg noch selbst erlebt oder ihre ersten Kindheitserinnerungen in den unmittelbaren Nachkriegsjahren gemacht haben, sind in den letzten Monaten schreckliche Erinnerungen wachgerufen worden, Bilder neu auferstanden.


Sie wissen noch, wie es ist, tagtäglich Angst um das eigene Leben und das der Liebsten haben zu müssen. Was es bedeutet, wenn die eigene Existenz zerbombt wird und wenn Mütter, Väter, Geschwister oder andere geliebte Menschen nicht mehr nach Hause kommen.


Sie können davon erzählen, wie es ist im Krieg. Nicht abstrakt aus Geschichtsbüchern, sondern ganz konkret und damit erlebbar und eindrücklich für die nachfolgenden Generationen.


Dieses Wissen, diese Vermittlung durch Zeitzeugen, stirbt aus. Und damit geht auch ein Stück gelebte Geschichte verloren.


Umso wichtiger ist es, die Erinnerung auf anderen Wegen lebendig zu halten und das Gedenken an die Ereignisse der Geschichte immer wieder mit den Herausforderungen unserer Zeit zu verknüpfen.


Unsere Wachsamkeit darf sich deshalb nicht nur auf Russlands brutalen Krieg gegen die Ukraine und auf die Verteidigung von Freiheit und regelbasierter Ordnung richten.


Überall auf der Welt gewinnen Autokraten und Demokratieskeptiker an Einfluss, werden demokratische Prozesse und staatliche Institutionen immer mehr in Frage gestellt. Auch in Europa, auch in Deutschland Jahr für Jahr steigt die Zahl extremistisch, rassistisch und antisemitisch motivierter Straftaten und Anschläge.


Jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger fühlen sich angesichts des wachsenden Antisemitismus nicht mehr sicher in unserem Land. Was für eine Schande!


Hass, Hetze und Gewalt nehmen demokratiegefährdende Ausmaße an: Überall zum Beispieldort, wo Menschen sich deshalb nicht mehr trauen, ein Mandat oder ein Ehrenamt anzunehmen.


Das sind nicht nur Warnzeichen, meine Damen und Herren, es sind laute, deutliche Weckrufe. Alarmsignale. Tatsachen, die zeigen, dass in unserer Gesellschaft Kipp-Punkte entstehen: Entwicklungen, in denen Wut, Ausgrenzung und Gewalt als politische Mittel salonfähig und entscheidende Grundwerte unserer Demokratie aggressiv in Frage gestellt werden.


Deshalb ist unser aller Wachsamkeit auch im Inneren gefordert. Uns darf das alles dabei nicht nur betroffen machen. Das reicht nicht. Dagegen müssen wir uns mit allen Mitteln des demokratischen Rechtsstaats zur Wehr setzen: Entschlossen, durchsetzungsstark und nachhaltig.


Mit starken Sicherheitsbehörden, einer leistungsfähigen Justiz und deutlichem politischen Widerstand. Und der klaren Ansage: Hier darf es keine Relativierung, keine Beschönigung und erst recht keine Verharmlosungen geben.


Wir müssen klare Kante zeigen gegen jede Form des Extremismus, und unsere Wehrhaftigkeit stärken.


Und wir müssen Antworten finden: Warum schwindet das Vertrauen der Menschen in den Staat und seine Institutionen? Warum scheinen Hass, Hetze, Ausgrenzung und Gewalt heut ein Teilen der Gesellschaft gesellschaftsfähiger zu sein als wir uns es jemals hätten vorstellenkönnen?


Dies ist nicht nur eine abstrakte, wohlfeile Forderung, nach dem Motto „jemand müsste mal“. Sondern in aller Einfachheit und Klarheit eine der zentralsten und zugleich herausforderndsten Aufgaben, vor denen Politik und Gesellschaft heute wieder stehen.


Vertrauen entsteht, wenn es der Politik gelingt, die Menschen mit ihren Nöten, Bedürfnissen und Fragen ernst zu nehmen und sie bei politischen Entscheidungen mitzunehmen: Durch Kommunikation. Durch Zuhören. Durch konkrete, verständliche und wirksame politische Entscheidungen. Und durch gutes Vorbild im politischen Handeln, durch klare Sprache.


Wehrhaftigkeit entsteht, wenn nicht nur starke Sicherheitsbehörden den Rechtsstaatdurchsetzen, sondern auch jede und jeder Einzelne in der Gesellschaft für unsere Werteeintritt:


Bei der Arbeit, in der Familie und im Freundeskreis ebenso wie durch Respekt und Anerkennung für alle Jene, die unsere Wehrhaftigkeit nach innen und außen verkörpern und gewährleisten.


Meine sehr geehrten Damen und Herren,


heute Abend wird die Bundeswehr hier im Bendlerblock, mitten in Berlin, öffentlich ein Feierliches Gelöbnis durchführen.


Dabei werden unsere neuen Rekrutinnen und Rekruten geloben, der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen.


Ort und Inhalt dieses feierlichen Ereignisses sind Ausdruck einer fest in der Mitte der Gesellschaft verankerten Bundeswehr.


Ich werde mich in den nächsten Monaten und Jahren darum bemühen, noch mehr öffentliche Gelöbnisse durchzuführen, weil es glaube ich nötig ist, den Menschen klar zu machen, wie wichtig für eine Demokratie eine auf Werten der Demokratie stehende Bundeswehr ist. Und wie wichtig es ist, dass sie in der Mitte der Gesellschaft stattfindet und Respekt und Anerkennung für das bekommt, was sie tut.


Dieses Gelöbnis findet statt in einer Zeit, in der sich Deutschland fast 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wieder einen festen Platz in der Staatengemeinschaft erarbeitet hat und das Vertrauen seiner Bündnispartner wiedererlangt hat.


Eine historische Errungenschaft, ermöglicht durch die Weitsicht der damaligen politischen Entscheidungsträger, allen voran unserer amerikanischen und europäischen Freunde.


Sie haben damals nicht den Weg der Vergeltung gewählt, sondern die Weichen für ein demokratisches Deutschland in einem geeinten und befriedeten Europa gestellt–auch wenn die Überwindung der Spaltung in Ost und West noch einige Jahrzehnte in Anspruch nehmen sollte.


Viele von uns sind Kinder, wie ich es immer sage, des Kalten Krieges. Wir wissen noch, wie es war, Ostflanke zu sein, abhängig vom Schutz unserer Freunde und Verbündeten, ohne deren Beistand wir unsere Sicherheit und Freiheit niemals hätten verteidigen können.


Heute erwarten unsere Freunde und Verbündeten von uns, dass wir mit der gleichen Entschlossenheit und Zuverlässigkeit und Weitsicht für die Sicherheit und Freiheit unserer Bündnispartner an der heutigen Ostflanke eintreten. Dass wir unseren Beitrag leisten für den Erhalt von Demokratie und internationaler regelbasierter Ordnung–wo und wenn nötig, auch mit militärischen Mitteln.


Vor dem Hintergrund unserer Geschichte und im Wissen um die furchtbaren Verbrechen des Nationalsozialismus und der deutschen Wehrmacht fällt uns diese militärische Seite unserer Wehrhaftigkeit nicht leicht.


Die von Putins brutalem Angriffskrieg ausgelöste sicherheitspolitische Zeitenwende lehrt uns jedoch: Das ist bitter nötig.


Meine sehr geehrten Damen und Herren,


hier, an diesem historischen Ort und an diesem historischen Tag wird uns besonders bewusst: Unsere Sicherheit und unsere Freiheit, unsere demokratische und offene Gesellschaft sind keine Selbstverständlichkeit, sondern kostbarstes Gut, in das wir immer wieder neu investieren müssen, das wir verteidigen müssen.


Der Widerstand vom 20. Juli 1944 mahnt uns, diese Verantwortung anzunehmen, sie zu übernehmen und für unsere gemeinsamen Werte zusammenzustehen.


Er mahnt uns alle, Politik, Gesellschaft und Militär, zur frühen Wachsamkeit der Demokratinnen und Demokraten. Das ist sein Vermächtnis und das ist das Versprechen unseres gemeinsamen Gedenkens.


Vielen Dank.

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