Auch die Deutschen litten um der Freiheit willen. Die Frucht der Prüfung ist ein neues Europa.

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Edmond Michelet

Auch die Deutschen litten um der Freiheit willen. Die Frucht der Prüfung ist ein neues Europa.

Ansprache des französischen Justizministers am 20. Juli 1962 in der Bonner Beethovenhalle

Ich muss mich zuerst herzlich und aufrichtig entschuldigen. Ich würde gern auf deutsch, in Ihrer Sprache sprechen. Aber ich muss es französisch tun. Ich habe in Deutschland mehr als zwei Jahre zugebracht in einer Zeit, die wir vergessen wollen. Ich dachte bei Ihnen zu sein für drei Wochen, für vier Wochen. Aber es lohnte sich deswegen nicht, deutsch zu lernen. Aber wenn sich das noch einmal wiederholen sollte, dann verspreche ich Ihnen, ich würde deutsch lernen. Aber das wird sich ja nun nicht wiederholen. Die freie Vereinigung der Deportierten und Widerstandskämpfer, die deutsche Abteilung, wollte, dass zur Teilnahme an dieser ergreifenden Feier des 20. Juli ein französischer Deportierter, der zu dem gehört, was man den Widerstand nannte, den Widerstand, der verspottet und verhöhnt wurde und unter der Führung von General de Gaulle stand. Ich bringe Ihnen jetzt das Zeugnis dieses französischen Staatschefs.

20. Juli 1944. Dachau, Konzentrationslager, das älteste und berühmteste, fast das Vorbild aller anderen. Betrachtung und erster Gedanke. Die Geschichtsforscher haben vielleicht noch nicht alles gesagt, was sie zu diesem Thema als elementares Zeugnis bringen sollten. Am 20. Juli 1944 im Konzentrationslager wie Dachau waren schon länger als zehn Jahre Deutsche, echte Deutsche, litten schwer in diesem Pandämonium, dem man eine Beschreibung geben könnte, auf die ich nicht zurückkommen will. Viel schlimmer noch als die verbrecherische Seite dieser unvergesslichen Sache war doch noch viel ärger das Geistlose, das Dumme, das Sinnlose dieses ganzen, dieser schließlich Kafka-Haltung, dieser Sinnlosigkeit im Ganzen.

Als wir kamen und die Polen und die Tschechen und die Balten und die Belgier und die Holländer, die Spanier und dann schließlich wir Franzosen, als wir kamen, das Schauspiel, das wir dort bekamen, war so sinnlos, da waren Menschen, Brüder, Deutsche, die bezeugten es, als Zeugen in diesem Lager. Und sie standen als Zeugen für Werte, die wir nicht preisgeben. Und fragen Sie mich jetzt, welche Werte das waren, dann lassen Sie mich sagen, jetzt an dem Gedenktag des 20. Juli 1944 erinnere ich Sie an den Wortlaut eines der ersten Aufrufe, die wir in der damaligen Zone noch verbreitet haben. Und was sagte nun dieses Flugblatt, das wir mit gewissen Gefahren nur verbreiten konnten? Es sagte ganz einfache Sachen, sehr konkrete elementare Sachen. Das waren die Dinge, über die wir nicht verhandeln konnten, von denen wir nichts preisgeben konnten.

Es handelte sich darum, zu wissen, ob wir frei würden weiter leben können, ob wir des Morgens aufstehen könnten, ohne auf uns gerichtet das Auge der Polizei zu fühlen, zu einer Arbeit gehen zu können, die man selber gewählt hatte, die nicht durch Zwangsarbeitsdienst in einem Arbeitslager geleistet wurde. Wir wollten wissen, ob wir die Regierung kritisieren könnten, ob wir Zeitungen lesen könnten, denen wir glauben könnten oder nicht, die aber nicht im Chor auf Befehl logen, dass wir uns verheiraten könnten, ohne vorher dem Tierarzt zur Besichtigung vorgeführt zu werden. So wollten wir leben. Wir wollten unsere Kinder nach unseren Gedanken erziehen können, und wir wollten vor ihnen alles aussprechen können, was man denkt und auch noch mehr, ohne der Gefahr zu laufen, an die Polizei verraten zu werden; wir wollten ein Menschenleben führen und nicht ein würdeloses Herdendasein. Es waren die Forderungen der Freiheit und der Weltanschauung des Vaters und Großvaters. Unsere Kameraden, die Deportierten, Nicht-Deutsche und Deutsche.

Welche Ergebnisse ziehen wir nun aus diesem 20. Juli? Der 20. Juli ist nicht der Gedenktag eines Sieges. Der 20. Juli war für Niemanden ein Siegestag, aber vielleicht noch wertvoller. Es ist der Tag, an dem wir ein Licht gesehen haben, ein ganz schwaches Licht, aber es war das erste Licht am Ende eines langen Tunnels, dieses Licht, das in den Augen unserer deutschen KZ-Kameraden leuchtete. Es war der Tag, an dem man sich an das Wort des Dichters erinnern kann, dass es Nacht sein muss, um an die Schönheit des Lichtes zu glauben. Und nun möchte man die Frage stellen, ob das Opfer, das die, die den 20. Juli gemacht haben, ob das Opfer völlig umsonst war, zwecklos. Ich glaube es nicht. Dieses furchtbare Opfer ist verstanden worden.

Die Wirklichkeit, die dieser unerhörten Prüfung gefolgt ist, diese Wirklichkeit ist Europa. Es ist der Name, den die Jungen, die uns folgen, ebenso aussprechen wie wir. Es sind die Nachfolger derer, die das Europa der Konzentrationslager gekannt haben, die jetzt davon sprechen. Sie diskutieren und streiten sich fast um Worte, ob Europa integriert werden soll oder ob es ein Europa der Vaterländer sein soll, ob es eine Konföderation oder ein Bündnis sein soll. Das möchte ich Einzelheiten nennen. Sicher, die Spezialisten müssen auch dazu ihre Meinung sagen. Sie müssen daran arbeiten, was Europa von morgen sein wird. Aber ich betone nachdrücklich, dass dieses Europa von morgen leben wird aus den Empfindungen derer, die am Morgen nach dem 20. Juli wieder angefangen haben, aufzuatmen und Hoffnung zu haben.

Wir kennen die Gefahren des totalitären Systems, seine Drohungen und seine Folgen, die kennen wir alle. Es ist eine furchtbare Herrschaftsform. Es war vielleicht das einfachste, mit offenem Visier Widerstand zu leisten. Aber vielleicht war es noch schwerer, geheim Widerstand zu leisten. Dieses totalitäre Regime, das wir in Westeuropa gesehen haben, worin besteht denn das? Diese Herrschaftsform besteht noch auf der anderen Seite des Vorhangs, den Churchill den Eisernen Vorhang nannte. Wir hören diesen gequälten Aufschrei, den wir von Radio Budapest gehört haben, diesen Aufschrei aus Ungarn an Europa. Viele unserer Kameraden, die mit uns diese Erfahrung gemacht haben, sie haben jetzt wieder den Weg ins Konzentrationslager antreten müssen, ins Konzentrationslager, das sie kurz vorher verlassen hatten.

Aber Europa wächst, Europa wird. Die, die diese Erfahrung gemacht haben, sind es sich selber schuldig, sind es ihren Kindern schuldig, Europa in Freiheit zu machen. Und deshalb bin ich auf den Appell unserer deutschen Freunde hierher gekommen, um zu sagen, worin wir glauben, dass Europa besteht. Wir haben in den letzten Wochen erhebende Stunden in Paris, in Rouen, in Bordeaux, in Reims gesehen und erlebt. Das sind Taten, die in der Geschichte eingeschrieben bleiben werden. Sie werden in der Geschichte des jungen Europa eingetragen, diese Geschichte des jungen Europa, die durch so viel Unglück, durch so viel Leid und Elend gesucht werden musste.

Wir denken daran, dass einer er Vorwürfe, der Beschimpfungen, die uns Franzosen als schwersten Vorwurf trafen, das war: Franzosen haben keine Disziplin. Wir wissen es, dass wir nicht diese Tugenden der Deutschen haben. Aber wir sind Menschen von Herzen. Und nach dieser tragischen Reihe von Erlebnissen ist es nunmehr Zeit, die Folgerungen daraus zu ziehen, und die Folgerung heißt Europa. Daran müssen wir, die einen wie die anderen, arbeiten. Und dazu müssen wir die Jungen, die uns nachfolgen, einladen und auffordern, ob unsere Kinder nun hier sind und uns hören oder ob sie einmal nach Reims und Chartres und Bordeaux kommen werden, um das zu besuchen, was wir Franzosen bei euch in Deutschland sehen möchten, und nicht als Besucher in Konzentrationslagern.






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20.07.1962
 Ernst Lemmer
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