Dienst an der Freiheit - Tragende Idee unseres Lebens

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Hanns-Joachim Unger

Dienst an der Freiheit - Tragende Idee unseres Lebens

Gedenkrede des Präsidenten der Fédération internationale libre des Déportés et internés de la Résistance (FILDIR) Hanns-Joachim Unger am 20. Juli 1962 in der Bonner Beethovenhalle

Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kameraden!

Die Stunde will ich stellen unter das Wort von Augustinus, dass die Liebe über die Sphäre der Ratio sich erhebt, sie, die mehr als alle Vernunft beseligt. Die Liebe zum Menschen war es auch, die dem deutschen Offizier, dem Politiker, dem Gläubigen die Kraft gab, sich zu erheben gegen das Verbrechen der nazistischen Jahre, gegen den Brudermord, und ihr Leben für die ewigen Rechte des Menschen hinzugeben. Mit gefesselten Händen schrieben sie den Abschiedsbrief an ihre Lieben. Nach ihrem Liebesgesetz forderte das höchste Gut, die Freiheit, den höchsten Einsatz. Die Hingabe ihres Lebens als Protest war ihr summum bonum. Was soll dieser Haltung gegenüber das heutige sinnlose Debattieren über den Nutzen, die fehlende Geschicklichkeit, die routine d’action vom 20. Juli, diese späte rationale Fragestellung? Was alles wird nun, wo es so leicht ist, erwogen und gemunkelt? Was alles wird den Männern nachgesagt an Organisationsfehlern, am Wählen des falschen Augenblicks?

Erkennen wir doch endlich, dass es keinerlei gleiche Grundlagen geben kann für diese beiden so verschiedenen Bereiche, einem Idealismus der Freiheit Platons oder des Christentums und einem positivistischen Materialismus, dem sich zu oft als Begleiter ein mehr oder weniger getarnter Atheismus zugesellt. Diesem Phänomen, das die Männer und Frauen des 20. Juli darstellen, gesellt sich ein zweites hinzu. Ohne jede Verbindung mit den Oppositionellen des 20. Juli bildete sich in München ein Kreis junger Dozenten und Studenten. Ihre Führer waren die Geschwister Scholl. Sie wollten auf ihre Weise den Sturz des nationalsozialistischen Regimes herbeiführen ohne nach dem unmittelbaren Erfolge ihres gefahrvollen Unternehmens zu fragen - sie starben alle unter dem Beil - veranlassten sie mit unsäglichen Mühen eine über Monate dauernde Flugblatt- und Versammlungsaktion, über deren Geist das Ende 1943 verbreitete Flugblatt endgültig aussagt. Dieses Flugblatt schloss mit dem Satz: „Der deutsche Name bleibt für immer geschändet, wenn nicht die deutsche Jugend endlich aufsteht, rächend und sühnend zugleich ihre Peiniger zerschmettert und ein neues, geistiges Europa aufrichtet. Unser Volk steht im Aufbruch gegen die Verknechtung Europas durch den Nationalsozialismus.“

Die profiliertesten Köpfe dieser beiden Bewegungen, des Kreises des 20. Juli und der Münchener Scholl-Gruppe, Klaus Graf Stauffenberg und Alexander Schmorell, wären in diesem Jahre 45 und 55 Jahre alt. Sie ständen also, hätten sie überlebt, heute als tätige Menschen unter uns und wir müssten ihnen Rede und Antwort stehen über die Gründe, die uns hier zusammengeführt haben. Zu allen Zeiten haben Staaten und Völker sich bemüht, den unbegrenzten Lauf der Zeit zu skandieren, indem sie Zeremonien, Feiertage und Feierstunden schufen oder gar anordneten. Nicht immer haben sie hierbei eine glückliche Hand gehabt. Die Wirkungslosigkeit ihres Handelns zeigt sich stets, wenn nur Erinnerung die Stunde beherrscht. Wir meinen, dass ein solcher Tag in erster Linie der Selbstkontrolle des eigenen Handelns dienen sollte, einer Selbstkontrolle, der als Maßstab die Leistungen der Menschen zuzuordnen sind, deren wir gedenken. Nur wenn es sich herausstellt, dass das Ideal, dem die Toten dienten, auch noch heute die tragende Idee unseres Lebens ist, haben wir das Recht zu einer solchen Feierstunde.

Ich sage, die tragende Idee unseres Lebens, sie ist und bleibt der Dienst an der Freiheit, an der Freiheit nicht als einem verschwommenen Begriff sondern einer an die Selbstdisziplin gebundenen Freiheit, die sich zur Aufgabe macht, die Freiheit für sich zu fordern, die man dem Mitmenschen bereit ist zu geben. Diese Freiheit ist aber heute im selben Maße gefährdet wie in den Tagen des 20. Juli 1944. So wie damals der Nationalsozialismus versuchte, die Menschen in Mitteleuropa zu versklaven, so verfolgt der Kommunismus in unseren Tagen dasselbe Ziel. Es hat damals wie heute nicht an Versuchungen gefehlt, dieses verbrecherische Ziel zu verschleiern. Damals wie heute sind Menschen diesem Trug zum Opfer gefallen. Damals wie heute glauben viele Menschen, dass der Kampf um die Freiheit sie nicht berührt. Während die damals aufgelegte Reserve noch verständlich erscheinen kann, weil die Auswirkungen dieser verbrecherischen Systeme für viele nicht eindeutig erkennbar waren, so ist es heute aber Niemandem möglich, die Entschuldigung des „ich weiß nicht“ in Anspruch zu nehmen. Die Millionen Opfer des Nationalsozialismus, die Versklavung der freien Völker im europäischen Osten sprechen eine unüberhörbare Sprache. Wir, die Überlebenden aus diesen Jahren des Kampfes, des Kampfes gegen den Nationalsozialismus, haben die Pflicht, der Welt zu sagen: Folgt dem Beispiel unserer Toten, wenn ihr der Entwicklung der Menschheit dienen wollt!

Wie leicht wird es uns im freien Westen gemacht, diesen Dienst zu leisten. Die geistigen und die materiellen Erfolge unserer Lebensordnung müssten auch die Saumseligen und Unbelehrbaren unter uns ansprechen. Trotzdem müssen wir ein Heer abseits Stehender beklagen. Der Rechtspositivismus herrscht in unserer Rechtspflege und produziert unverständliche Urteile. Mangelnde Selbstkritik und mangelnde Fähigkeit zur Reue schaffen Situationen in unserem Staat, in denen auch wir als Vorkämpfer der neuen Ordnung unglaubwürdig werden könnten. Der überwiegende Teil unseres Volkes, unter ihm manch ehemaliger Gegner, der nach innerer Einkehr den Weg zu uns gefunden hat, steht heute mit uns in einer Front. Diese Tatsache veranlasst uns ganz besonders, jene Dinge zu nennen, die noch bereinigt werden müssen, geben sie doch allen jenen einen billigen Vorwand, die in der Mittelzone unter einem totalitären Regime erneut Verbrechen auf Verbrechen türmen. Nur wenn wir uns am 20. Juli, dem Tage der deutschen Erhebung, in Wort und Tat zu den Männern des 20. Juli bekennen, ist zu erwarten, dass wir das Gewissen jener in der Mittelzone ansprechen, die noch imstande sind zu hören. Sie sollten sich die Männer des 20. Juli zum Vorbild nehmen und an das Wort von Weizsäcker denken: „Wer sich opfert oder geopfert wird, hat die Potenz der Überlegenheit des Sieges erworben, eines Sieges, der nicht nur errungen werden muß für den versklavten deutschen Teil Europas, seiner Früchte sollten auch alle jene schweigenden Nachbarvölker im Osten Europas teilhaftig werden, die die Freiheit genauso lieben wie wir und mit deren Eliten wir gemeinsam gegen den Nationalsozialismus gekämpft haben.“

Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, mit einem Gedicht eines der Unseren, einem Gedicht Albrecht Haushofers, zu meinen Kameraden sprechen:

„Du Toter, denkst du der Gefährten auch.

Heut’ war mir wieder, zwischen Traum und Wachen,

als hört’ ich dein vertrautes, tiefes Lachen,

als fühlt’ ich an der Wange deinen Hauch.

Du hast so viel geschaut, gespürt, geahnt.

Hast früh mit früher Wandlung dich verbündet.

Hast mir noch dunkle Mühsal streng verkündet.

Ist nun auch mir der Weg zum Strom gebahnt?

Ich bin bereit, zu bleiben und zu gehen.

Es leben nicht mehr viele, die mich halten.

Der Toten sind die tieferen Gewalten.

Ich fühle dich im Boot als Fergen stehen.

Ich fühle deine Hand sich grüßend heben.

Du schweigst? Soll ich dir folgen oder leben?“






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