Darstellung des anderen Deutschland

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Josef Mick

Darstellung des anderen Deutschland

Ansprache des Vorsitzenden des Bundestagsausschusses für Kriegs- und Verfolgungsschäden Josef Mick am 20. Juli 1967 in der Bonner Beethovenhalle

Ich wagte erst gar nicht den Versuch, eine möglichst komplexe Aussage über den 20. Juli zu machen; denn ich war an diesen Ereignissen handelnd nicht beteiligt. Landseruniform war nicht die des hohen Offiziers, der ins Vertrauen gezogen wurde. Auftauchende Landseruniform war aber auch ein Kleidungsstück, das Zivilisten verstummen ließ, wenn sie miteinander sprachen.

Als alles vorbei war, hörte ich von den Ereignissen in der Darstellung des Lügengenies Dr. Goebbels. Nach dem Kriege erst wurden mir viele Namen offenbar, die dabei waren und die ich kannte. Was ich damals nach der Rede des Lügengenies wusste, war, dass es nun bis zum bitteren Ende ging. Nach uns die Sintflut!

Als ich in einem kleinen Dorf in Mecklenburg zerlumpt, verdreckt, verlaust vor dem Hause stand, in dem meine Frau evakuiert war, fing das Nachdenken auch für den kommenden Tag und darüber hinaus an; auch über Schuld oder Nichtschuld, meine Schuld, unseres Volkes Schuld.

Was ich Ihnen zu bieten habe ist keine Rede; es sind Fetzen aus einem Tuch, welches noch niemand ganz gesehen hat.

30. Januar 1933: Tag der nationalen Erhebung. Inmitten dichter Menschentrauben stand ich an der Kölner Ringstraße. Am dritten Tage danach wurde ich, der gelernte Buchdrucker, 19 Jahre alt – oder jung – nein, damals war es alt werden. Schon über ein halbes Jahr gehörte ich der industriellen Reservearmee von rund 7 Millionen Menschen an. Jener industriellen Reservearmee, die vor allem an den Arbeitsämtern unter der strengen Aufsicht auch berittener Polizei stand, und wo es doch immer wieder zu Unruhen kam. In den Betrieben war es ein geflügeltes Wort auch in den Büros und Verwaltungen: „Wenn es Ihnen nicht passt, können Sie gehen; es warten genug andere auf Ihre Stelle.“ Noch nicht 19 Jahre, war der grüne Baum der Hoffnung schon sehr kahl.

Dass Weimar an der Freiheit zugrunde gegangen war, die es den Feinden der Freiheit gewährte, kapierte ich damals noch nicht. Das kam viel später. Ich sah nur Not, ausweglose Not, vor allem meine eigene, und ich suchte nach dem Strohhalm wie so viele. Dass ich nicht nach der braunen Uniform griff, verdanke ich meinen Eltern, meinem Vater, einem alten Gewerkschaftler.

Es kamen die Marschkolonnen. Nicht nur die Nazis, in der Minderheit waren es Nazis. Es kamen Menschen, denen man das Attribut anständig gewiss nicht absprechen konnte. Man zeigte, dass man national war und marschierte oder stand am Straßenrand. Marschierer und Spalierstehende waren gegen Versailles, gegen den Völkerbund, gegen, gegen, gegen – gegen alles Unrecht, das man uns, den Deutschen angetan hatte, jenes Unrecht, aus dem bittere Not gewachsen war. So hatte man es uns in der Schule gelehrt, wohlgemerkt in den Schulen der Weimarer Republik. Die Literatur war voll davon; auch die Presse und die Reden der Politiker, auch der Demokraten.

Blutende Grenzen: Eupen-Malmedy, Elsaß-Lothringen, Deutsch-Österreich, Süd-Tirol, Sudentenland, Oberschlesien, Polen-Westpreußen, die Kolonien und überall geknechtete Deutsche ... Mein Lehrer hatte in Thorn deutsch optiert und bewohnte den Dachboden unserer Schule. Können Sie sich vorstellen, wie er vor seinen Schülern optierte?

Im Felde unbesiegt! Wer sollte uns auch schon besiegt haben, uns, die Deutschen? – Deutschland, Deutschland über alles. Die Handvoll Belgier? Die verweichlichten Franzosen, wo jeder Mann und jede Frau – na, was denn? – O lala ... Oder gar die laufenden Italiener, deren einzige Qualität im Konsum von Spaghetti bestand? Keine Nation hatte doch die Qualitäten, uns zu besiegen. Die hinterlistigen Tschechen fielen uns in den Rücken mit den vielleicht noch hinterlistigeren Polen. Der Russe, na ja, dumm und gutmütig, nur wenn er gesoffen hat, macht er alles hin, und er säuft oft. Die Engländer? Kalt wie eine Hundeschnauze, lassen doch nur andere für sich kämpfen! Und die Yankees, öde Geldsäcke ohne Kultur, aber mit Geld kann man uns nicht fertigmachen.

Klischees, Klischees, Klischees in jeder Menge geliefert, je nach Bedarf. In deutschen Schulen, oder wo sonst von Deutschland und anderen die Rede war. Alle waren schuldig, nur wir nicht. Wir waren vergewaltigt.

Am 30. Januar 1933 war ich noch nie im Ausland; ich hatte auch keinen Kameraden, der schon einmal im Ausland war. Die Grenze nach Belgien und Holland ist von Köln keine 80 Kilometer entfernt.

Allerdings, wer damals „Deutschland, Deutschland über alles“ sagte, sagte noch lange nicht „Heil Hitler“, gewiss nicht. Aber wie schnell änderte sich das. Wie folgerichtig! Wer nicht „Heil Hitler“ sagte, war sehr bald kein Deutscher mehr. Wie sagte mir ein Sudetendeutscher einige Jahre später? „Wir sind Deutsche, keine Nazis, aber wenn wir uns als Deutsche darstellen wollen, müssen wir uns als Nazis darstellen, denn anders gibt es ja für Deutsche keine Ausdrucksform mehr. Wer sich anders darstellt, ist entartet, undeutsch, jüdisch, kommunistisch oder was weiß ich.“ Daran dachte ich gewiss noch nicht beim Anblick der in den Feuerschein der Fackeln getauchten marschierenden Kolonnen. Ich glaubte an einen Anfang zur Rettung des Vaterlandes.

Wer dachte damals an den deutschen Herrenmenschen? Im Kriege – in Russland – ging es mir auf, als ich einem alten Kämpfer in Offiziersuniform sagte, wie schön es sein müsste, für den Frieden zu arbeiten, statt im Kriege zerstören zu müssen. Die Antwort des alten Kämpfers: „Arbeiten – arbeiten werden Sie nie wieder in Ihrem Leben. Sie werden die zu bewachen haben, solange Sie ein Gewehr tragen können, die für uns arbeiten, die Knechte für uns, die Herren.“

Ermächtigungsgesetz: Nun, gebt ihm vier Jahre Zeit. Muss man nicht gerechterweise jedem Menschen eine Bewährungsprobe zubilligen? Ich horchte auf, als die Sozialdemokraten „nein“ sagten. Verstanden habe ich sie nicht; dazu bedurfte es eines Anschauungsunterrichts von beispielloser Härte. Da wurde es mehr als Verstehen. Vielleicht musste man damals in einer so ausweglosen Lage sein wie die deutsche Sozialdemokratie, um „nein“ sagen zu können. Am Verdienst an dem durch dieses Nein für uns angelegten moralischen Kapitel ändert das nichts. Später kam die Ausweglosigkeit auch für andere; für die Kirchen, für manche, insbesondere hohe Soldaten. Ich gestehe es in Offenheit, dass ich manchem dieser hohen Soldaten nicht verzeihen kann, ihnen, die von jedem Landser verlangten, anständig zu sterben, aber selbst wenig Mut zeigten, wo es galt, die Landser zu schützen vor unendlichem Missbrauch der Macht, um sie damit der Zukunft unseres Volkes zu erhalten.

Real ist und bleibt, dass das andere Deutschland von der Bildfläche verschwunden war. Es saß in Konzentrationslagern und Zuchthäusern, hielt sich versteckt und war in der Emigration, und es begann sich erst erneut darzustellen, als kein Ausweg blieb. Allein, die Darstellung des anderen Deutschland war nur für wenige sichtbar, konnte nur für Wenige sichtbar sein. Als viele darum wussten, war es vorbei. War es wirklich vorbei?

Nein! Es war wieder offenbar, was kaum noch jemand zu denken wagte, dass deutsch nicht Nazi zu sein brauchte, das deutsch auch anders dargestellt werden konnte, und – das setzte sich zunehmend fort – anders dargestellt werden musste. Der Gedanke war wieder da: Deutschland kann anders sein, Deutschland muss anders sein! Und wie lässt Dürrenmatt seinen Physiker sprechen: „Ein Gedanke, der geboren ist, kann nicht zurückgenommen werden. Er erledigt sich von selbst oder aber er bricht sich Bahn.“

Der Gedanke brach sich Bahn! Das scheint mir eine der wichtigsten Aussagen des 20. Juli – vielleicht die wichtigste zu sein: Deutschland kann anders sein, Deutschland muss anders sein! Wer darüber verzweifeln mochte, dass nichts zu ändern sei – und die Mehrzahl der Deutschen verzweifelte an ihrer eigenen Schwäche, nichts ändern zu können –, fasste jetzt wieder Mut; gewann Vertrauen; es gab Männer und Frauen – auch wenn sie jetzt vor den Tribunalen des Volksgerichtshofes standen –, die handlungsfähig waren, das andere Deutschland darzustellen.

Am 1. Mai 1933 wurden die Gewerkschaftshäuser besetzt, die freien verboten, die christlichen gleichgeschaltet. Als ich im Gewerkschaftshaus in Köln braune Uniformen hinter den Schreibtischen sah, empörte ich mich zum ersten Mal; denn hinter diesen Schreibtischen hatten Männer gesessen, die stets für soziale Gerechtigkeit eingetreten und alles andere als Bonzen waren. Warum tat man ihnen das an? Einige dieser Sekretäre waren anwesend, mit mürrischen Gesichtern, denen man das Widerstreben ansah. Einer allerdings dienerte auch – Konformist nennt man wohl so etwas heute. Die Kassen waren leer, die Gelder rechtzeitig unverdächtigen Zwecken zugewendet. Eine Kasse war prall gefüllt: Der sie zu verwalten hatte, hatte sich geweigert, sie anderen als Gewerkschaftszwecken nutzbar zu machen: „Es sind doch Arbeitergroschen, ich habe sie zu verwalten und darf sie nur für den satzungsgemäßen Zweck ausgeben.“ Ein Mann von untadeliger Redlichkeit, von Treue, Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit. Die Kasse wurde von den Nazis vereinnahmt, ihren Zwecken dienstbar gemacht. Dem ebengenannten Manne hatte die Tugend gefehlt, zum rechten Zeitpunkt Zivilcourage zu beweisen, von der Satzung abzugehen, damit die Satzung, das Gesetz, das Recht nicht restlos vergewaltigt wurde.

Und unsere Volk? Redlich, pünktlich, fleißig, zuverlässig. Investierte es nicht diese Schätze deshalb falsch, weil es die Mittel für den Zweck hielt? Basiert nicht darauf schon seit eh’ und je die gesamte Erziehung? Die Erziehung zu den Mitteln. Haben wir heute die Spanne zwischen Gehorsam und Gewissen überbrückt? Kann sie überhaupt überbrückt werden?

Oh, ich weiß, es sind darauf Antworten von vielen klugen Persönlichkeiten, von Gelehrten, von Theologen gegeben worden. Letztlich muss dieser Kampf immer wieder neu ausgefochten werden, von jedem Einzelnen in der Verantwortung des Einzelnen, und wohl dem, der sich bei der Entscheidung fragend an ein höheres Wesen, an Gott, wenden kann und Antwort bekommt. Sich auf das Gewissen zu berufen, wenn es nichts kostet, bedarf keiner starken Charaktere.

Sich auf das Gewissen zu berufen und danach handeln, wenn es um alles geht, wenn man vielleicht nur auf verlorenem Posten ein Beispiel zu setzen hat als Legitimation dafür, dass es etwas anderes gibt. Da beginnt Heldentum, jenes Heldentum, welches undekoriert oft – ja sogar meist unerkannt – bleibt. Jenes Heldentum, aus dem die Völker, aus dem unser Volk, aus dem wir alle leben. Zeiten der Helden sind aber auch Zeiten der Versuchung. Versuchungen halten nur wenige stand. Der Mensch ist nicht auf heroisch angelegt. Christen und alle, die der Humanitas dienen, sollten es wissen. Führe uns nicht in Versuchung. Führe unser Volk nicht in Versuchung, führe kein Volk in Versuchung, auf dass alle bestehen können vor sich selbst und vor anderen.







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