Das Andenken bewahren

Rüdiger von Voss

Das Andenken bewahren

Tischrede von Rüdiger von Voss, Vorsitzender des Kuratoriums der Stiftung „20. Juli 1944“, am 20. Juli 1998 im Hotel Steigenberger, Berlin

Meine sehr verehrten Damen und Herren!

Sehr verehrte Frau Bundestagspräsidentin!

Bevor ich einige Worte an Sie richten darf, möchte ich unseres Freundes Dr. Friedrich Georgi gedenken, der im März dieses Jahres hier in Berlin gestorben ist.

Dr. Georgi war der Schwiegersohn General Olbrichts und als junger Offizier am Tage des 20. Juli 1944 im Bendlerblock anwesend. Er hat nach dem Krieg den „Arbeitskreis 20. Juli 1944 Berlin“ gegründet und mitgeholfen, die Tradition der Gedenkveranstaltungen zu begründen.

Die Arbeit der „Forschungsgemeinschaft 20. Juli“ hat er als Mitglied großzügig gefördert. Wir werden ihm ein dankbares Andenken bewahren.

Ich danke Ihnen, dass Sie sich zu Ehren des Verstorbenen erhoben haben.

Herzlich begrüße ich Sie im Namen des Kuratoriums und Vorstandes der Stiftung 20. Juli 1944 zu unserem diesjährigen Zusammentreffen der Angehörigen und Ehrengäste aus Anlass des 54. Jahrestages des Gedenkens an die Frauen und Männer des deutschen Widerstandes.

Unser herzlicher Gruß gilt den mit uns verbundenen Widerstandsorganisationen, für die ich ganz besonders Sie, Frau Dr. Annemarie Renger, begrüßen darf, die als Vorsitzende des Zentralverbandes Demokratischer Widerstandskämpfer und Verfolgtenorganisationen uns als stellvertretende Vorsitzende des Kuratoriums der Stiftung eng verbunden ist.

Herzlich begrüße ich die Damen und Herren Abgeordneten, die Vertreter der Bundesregierung und des Senats des Landes Berlin und alle Repräsentanten der Vereinigungen und Institutionen, die sich nach ihrem Auftrag um die Pflege der Geschichte und des Andenkens an die Menschen bemühen, die sich gegen Gewalt und Unrecht zur Wehr gesetzt haben.

Unser aller Dank gilt Ihnen, Frau Bürgermeisterin, Frau Dr. Christine Bergmann, für den gestrigen Empfang im Rathaus und die damit gegebene traditionelle Begegnung, die uns der Senat jedes Jahr ermöglicht.

Unser aller herzlicher Gruß und Dank gilt Ihnen, sehr verehrte Frau Bundestagspräsidentin, Prof. Dr. Rita Süssmuth. Herzlich danken wir Ihnen für Ihre Ansprache und die eindringlichen Worte, die Sie an uns und die politische Öffentlichkeit gerichtet haben. Sie sind die Erste, die als Präsident des Deutschen Bundestages zu diesem Gedenktag gesprochen hat, und so sind wir Ihnen für Ihre Rede besonders dankbar.

Herzlich danke ich in Ihrer aller Namen dem Vorstand der Stiftung, unseren Freunden Herrn Thomas und Herrn von Hofacker und unserer Geschäftsführerin Frau Scheffler für die große Anstrengung, die auch dieses Jahr mit den Veranstaltungen und dem heutigen Zusammentreffen verbunden waren.

Unser aller Dank gilt den beiden Geistlichen, Ihnen, Pater Dr. Meyer, und Ihnen, Herr Pfarrer Schliski-Schultze, für den bewegenden Gottesdienst am heutigen Morgen in der Hinrichtungsstätte Plötzensee.

Frau Dr. Blumenberg-Lampe wird im Verlaufe dieses Mittagessens in einer guten Tradition kurz über die Arbeit der Forschungsgemeinschaft 20. Juli berichten. Wir freuen uns besonders, dass sie als berufenes Mitglied des Kuratoriums morgen an unseren Beratungen mitwirken wird. Damit dauert die nun freundschaftliche, enge und institutionell miteinander fest verbundene Zusammenarbeit an, die wir 1973 begannen und die nunmehr 25 Jahre anhält.

Mit der diesjährigen Gedenkveranstaltung ist eine für die Geschichte des deutschen Widerstandes wichtige Anerkennung und Rehabilitation aller der Menschen verbunden, die sich gegen den nationalsozialistischen Unrechtsstaat auflehnten und Opfer der Verfolgung und Unterdrückung in der Zeit von 1933 bis 1945 geworden sind. Der Deutsche Bundestag hat in seiner 238. Sitzung am 28. Mai 1998 das Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege und von Sterilisationsentscheidungen der ehemaligen Erbgesundheitsgerichte verabschiedet.

Damit sind 59 nationalsozialistische Gesetze, Verordnungen, Durchführungsbestimmungen und Erlasse und die hieraus folgenden Verurteilungen und sonstigen strafgerichtlichen Entscheidungen endgültig aufgehoben, die – so heißt es wörtlich – „unter Verstoß gegen elementare Gedanken der Gerechtigkeit nach dem 30. Januar 1933 zur Durchsetzung oder Aufrechterhaltung des nationalsozialistischen Unrechtsregimes aus politischen, militärischen, rassischen, religiösen oder weltanschaulichen Gründen ergangen sind“. Die diesen Entscheidungen zu Grunde liegenden Verfahren werden eingestellt.

Wir danken von Seiten des Kuratoriums und Vorstandes ausdrücklich dem Bundesminister der Justiz, Prof. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, mit dem wir in der Zeit der Vorbereitung der Entscheidungen in enger Verbindung standen, für seine persönliche Kraft und Durchsetzungsfähigkeit, die dann die breite Zustimmung des Deutschen Bundestages gefunden hat.

Der Gesetzgeber des wiedervereinigten Deutschlands hat damit 53 Jahre nach dem Ende der Nazidiktatur dem Unrecht ein Ende bereitet, das einen so tief verletzenden Schatten auf die Menschen warf, an die wir uns heute und auch in Zukunft um der Integrität der Bundesrepublik Deutschland willen erinnern wollen.

Es ist damit auch eine wichtige politische Entscheidung des demokratischen Staates gefallen, die uns Hoffnung gibt, dass der Gesetzgeber nach der Bundestagswahl die Kraft entwickelt, auch die noch ungelösten Fragen zu klären, die sich aus der Verfolgung durch das Nazi-Regime ergeben haben und nur deshalb noch nicht gelöst werden konnten, weil tiefgreifende moralische Anfragen an diesen Staat aus Gründen der politischen Opportunität im Kontext der deutschen Wiedervereinigung nicht ausreichend behandelt und abschließend geklärt werden konnten.

Die Frage nach der Gerechtigkeit macht es notwendig, zu differenzieren und sehr sorgfältig darüber nachzudenken, wie es gelingen kann, eine moralische Ebene zu erreichen, die oberhalb des parteipolitischen Kalküls liegt. Deshalb sind wir auch bestrebt, in größter Bedachtsamkeit und sachlicher Empfindsamkeit nach einem Weg zu suchen, der auch die materielle Gerechtigkeit ermöglicht, die dem Rang der Schicksale entspricht, die sich für den Widerstand gegen Unrecht und Gewalt einsetzten.

Hierüber haben wir in den zurückliegenden Monaten mit allen Vorsitzenden der demokratischen Bundestagsfraktionen gesprochen und auch der Bundesregierung Überlegungen vorgetragen, die einen Konsens der Gutwilligen ermöglichen könnten, diesen abgrenzbaren Fragenbereich zur Klärung zu bringen.

Die Stiftung jedenfalls stellt sich ihrem Auftrag, und wir hoffen, auch diesen Teil noch ungelöster Probleme einer Lösung näher bringen zu können, die dem Rechtsfrieden entspricht, auf den wir vertrauen. Dieses Bemühen ist umso wichtiger, weil wir mit Sorge beobachten, dass erneut der Versuch unternommen wird, das persönliche wie politische für diesen Staat unverzichtbare Ansehen des deutschen Widerstandes zu beschädigen.

Der „totale Krieg“, die umfassende totalitäre Beherrschung von Staat und Menschen und die Aufarbeitung der im Zweiten Weltkrieg geschehenen Verbrechen erfordern eine besonders wache Beurteilung von persönlicher Schuld und Mitverantwortung für Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Die verletzenden, auch wissenschaftlich nicht zu rechtfertigenden Diffamierungen einzelner Persönlichkeiten des deutschen Widerstandes wie Henning von Tresckows oder Carl Heinrich von Stülpnagels, um diese beiden Namen beispielhaft zu nennen, des Stabes der Heeresgruppe Mitte oder anderer Gruppierungen des zivilen wie militärischen Widerstandes können eben um der Sache der Gerechtigkeit willen nicht schweigend hingenommen werden. Ich erinnere hier bewusst an die Bitte Bertolt Brechts an die Nachgeborenen, der gesagt hat: „Ihr, die ihr auftauchen werdet aus der Flut, in der wir untergegangen sind. Gedenkt, wenn ihr von unseren Schwächen sprecht, auch der finsteren Zeit, der ihr entronnen seid“.

Wir danken den Wissenschaftlern Prof. Peter Hoffmann und Prof. Günter Gillesen und all denjenigen Wissenschaftlern und den die Zeitgeschichte begleitenden Persönlichkeiten und Politikern, die sich in jüngster Zeit gegen den erneuten Versuch zu Worte melden, das Ansehen und Vermächtnis des deutschen Widerstandes zu beschädigen oder ein düsteres Zwielicht entstehen zu lassen, das nur diejenigen ermuntern kann, die schon immer die Existenz des „anderen Deutschlands“ leugneten. Ich darf Sie alle auf die Artikel von Prof. Hoffmann im Rheinischen Merkur vom 17. Juli und die Artikel in der FAZ vom 20. Juli hinweisen, in denen die „Jelzin-Papiere“ veröffentlicht worden sind, die unsere Aufmerksamkeit besonders verdienen.

Es ist also eine Aufgabe, die Verbrechen, die geschehen sind, nicht zu leugnen, gleichzeitig aber daran mitzuwirken, das Andenken an diejenigen zu bewahren, die ihr Leben und menschliches Tun dafür eingesetzt haben, dem Gewaltregime der Nationalsozialisten ein Ende zu bereiten und Recht und Gerechtigkeit wiederherzustellen. Dies schließt die Klärung von Schuld und Verantwortung ein. Und gerade die Stiftung und die mit uns verbundenen Widerstands- und Verfolgtenorganisationen haben insoweit einen Auftrag, den wir, auch dort, wo es schwer ist, wahrnehmen müssen.

Wir müssen unseren geistigen und persönlichen Zusammenhalt stärken und gerade dort einig sein, wo es gilt, das menschliche Tun und Fehlen einem gerechten Urteil zuzuführen. Nur das gerechte Urteil bewahrt die Erinnerung und schützt das unverlierbare Vermächtnis.

Ich erinnere deshalb am Schluss dieser Gedanken an das letzte Wort von Nikolaus Christoph von Halem, der am 9. Oktober 1944 in Brandenburg hingerichtet wurde: „Was mir das Schicksal jetzt nimmt, scheint viel, scheint alles zu sein. Aber es ist sehr wenig, gemessen an dem, was unverlierbar bleibt“.

Und so wünsche ich Ihnen allen und uns ein diesjähriges Zusammentreffen, das uns erneut zusammenführt.






Weitere Reden

20.07.1998
Alfred von Hofacker