Das wertvolle Erbe von Generation zu Generation weitergeben

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Karin Schubert

Das wertvolle Erbe von Generation zu Generation weitergeben

Ansprache der Bürgermeisterin von Berlin Karin Schubert am 19. Juli 2005 im Berliner Rathaus

Im Namen des Regierenden Bürgermeisters Klaus Wowereit heiße ich Sie herzlich willkommen im Berliner Rathaus. Ich freue mich, dass Sie unserer Einladung gefolgt sind, und ich finde, dies ist ein Treffen der besonderen Art. Viele von Ihnen kennen sich seit Jahrzehnten. Sie teilen Leid und Lebenserfahrungen aktiver Mitglieder des deutschen Widerstandes und ihrer Familienangehörigen, die vielfach eine kaum geringere Last zu tragen hatten und noch zu tragen haben. Es eint Sie die Erinnerung an Frauen und Männer, die ihr Leben für ein anderes, ein besseres Deutschland gegeben haben. Und es eint Sie die Entschlossenheit, dieses wertvolle Erbe von Generation zu Generation weiterzugeben.

Das Land Berlin hat Sie eingeladen, weil es eine gute Tradition ist, am Vorabend eines jeden 20. Juli zusammenzukommen. Wir möchten Ihnen für all das danken, was Sie für das ehrende Gedenken an den Widerstand getan haben, und für die vielen Impulse, die Sie unserem Land gegeben haben. Uns ist dieses Treffen wichtig, weil uns bewusst ist, was wir den Frauen und Männern des Widerstandes zu verdanken haben. Und dass es gerade auch für unsere heutige demokratische Gesellschaft wichtig ist, daran zu erinnern.

Bundespräsident Köhler hat es vor einem Jahr so ausgedrückt: „Die Frauen und Männer des Widerstandes legten – auch wenn das viele zunächst gar nicht recht wahrgenommen haben – eine moralische und geistige Basis für ein neues Deutschland, letztendlich auch für die Chance der Versöhnung in Europa.“ Die, die wir heute als Widerstandskämpfer bezeichnen, wollten keine Helden sein. Sie wollten anständig überleben. Und doch haben sie uns mit ihrem Wirken, mit ihrer Menschlichkeit, mit ihrem Anstand und mit ihrer Zivilcourage Großes hinterlassen.

Wer sich mit dem Widerstand und der Vorgeschichte des Nationalsozialismus beschäftigt, lernt auch etwas für die Gegenwart und Zukunft. Und was ich mit dem Begriff des „Lernens“ meine, ist die Sensibilisierung für den Wert demokratischer Institutionen. Wer die Zeugnisse der Frauen und Männer des 20. Juli 1944 liest, wird sich ermutigt fühlen zum Handeln, zum Einschreiten, zum Widersprechen, wenn Unrecht geschieht, wenn Menschen diskriminiert werden. Wir haben die Demokratie nach der Diktatur des Dritten Reiches nicht geschenkt bekommen, um es uns in einer Zuschauerrolle bequem zu machen, sondern um als aktive Bürgerinnen und Bürger Verantwortung zu übernehmen und an den Geschicken unseres Landes mitzuwirken.

Dies zu vermitteln, ist das Vermächtnis des Widerstandes. Und wir können es auf unter-schiedlichste Weise pflegen: In der Familie, indem wir Kinder zu mündigen, toleranten und verantwortungsbewussten jungen Menschen erziehen; in der Schule und der politischen Bildung, indem wir den Schülerinnen und Schülern das geistige Rüstzeug an die Hand geben, um unsere Gesellschaft zu verstehen, die individuellen Handlungsmöglichkeiten zu erkennen und persönliche Verantwortung wahrzunehmen; in der U-Bahn oder auf der Straße, indem wir gemeinsam aufstehen und einschreiten, wenn einem Menschen Gewalt und Unrecht widerfährt; in der Politik, indem wir respektvoll mit den Grundrechten umgehen und uns immer wieder bewusst machen, dass die Bindung unseres Handelns an den Grundsatz der Menschenwürde und an das Recht den Kern dessen ausmacht, was die Bundesrepublik von der Gewaltherrschaft der Jahre 1933 bis 1945 unterscheidet.

Der Aufstand des 20. Juli 1944 war ein Aufstand des Gewissens. Die Widerstandskämpfer konnten und wollten nicht mehr tatenlos zusehen, wie die Würde und das Recht des Menschen mit Füßen getreten wurden. Das ist ihr Vermächtnis. Unser Auftrag ist, unseren demokratischen Rechtsstaat mit Leben zu erfüllen und weiter am friedlichen Zusammenleben und an der Einigung Europas mitzuwirken.

Ich sprach eingangs von der Tradition dieses Treffens am Vorabend des 20. Juli. Der damalige Bundespräsident Gustav Heinemann hat in Anlehnung an Jean Jaurès anlässlich der Gedenkstunde vor 36 Jahren in Plötzensee gesagt: „Tradition heißt nicht, Asche zu verwahren, sondern eine Flamme am Brennen zu halten.“ Das ist der Sinn unseres Gedenkens an die mutigen Frauen und Männer des 20. Juli 1944 und all die bekannten und unbekannten Menschen, die auf ihre innere Stimme statt auf Befehle hörten und entsprechend handelten.

Ich danke Ihnen, dass Sie heute hier sind, und wünsche Ihnen einen angenehmen Abend.







Weitere Reden