Dem Nationalsozialismus nie wieder das Feld überlassen

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Heidemarie Wieczorek-Zeul

Dem Nationalsozialismus nie wieder das Feld überlassen

Ansprache der Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Heidemarie Wieczorek-Zeul am 20. Juli 2008 im Ehrenhof der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in der Stauffenbergstraße, Berlin

Liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer an der Gedenkveranstaltung,

wir gedenken heute der Widerstandskämpfer gegen Gewaltherrschaft und Rassenwahn. In diesem Hof sind in der Nacht vom 20. Juli 1944 Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg, General Friedrich Olbricht, Oberst Albrecht Ritter Mertz von Quirnheim und Oberleutnant Werner von Haeften erschossen worden.

Ulrich Wilhelm Graf von Schwerin wurde verhaftet und später hingerichtet.

Wir gedenken aller Opfer des "20. Juli" als Repräsentanten einer Widerstandsbewegung, die in ganz Deutschland, in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen gegen die Nazibarbarei aufgestanden ist.

Und wir gedenken der Angehörigen der Opfer. Für uns ist es eine besondere Ehre, dass Frauen und Männer aus diesen Familien heute bei uns sind und dass wir hören können, was sie uns zu sagen haben.

Für mich sind die Männer des "20. Juli" und ihre militärischen und zivilen Mitstreiter Vorbilder über ihren Tod hinaus.

Ihre Entscheidung musste eine des Gewissens sein. Denn es gab bis dahin in der deutschen Militärtradition keine Basis für politischen Widerstand.

Konservative Kreise lehnten den Tyrannenmord zumeist ab. Für viele der von dieser Tradition her gehemmten Generale und die Mehrheit der Militärs wurde der soldatische Eid auf Hitler auch ein Vorwand, sich dem Widerstand zu versagen. Aus der Eidesbindung wurde so für manche ein regelrechtes Gedankengefängnis. Das machte die Verständigung im Widerstand schwer und die Mutigen einsam.

Die Menschen mit dem Mut, ihr Gewissen nicht einem Gewissenlosen auszuliefern, waren daher einerseits alleine – alleine mit Freunden, mit ihren Frauen und ihrer Familie.

Andererseits waren sie aber auch, wie wir heute sehr wohl wissen, Teil einer viele politische Gruppierungen verbindenden Bewegung des Widerstandes. Wir wissen heute: Es gab in den 12 Jahren nationalsozialistischer Herrschaft über 40 Attentatsversuche gegen die Diktatur.

Der "20. Juli" wies von Anfang an über den Tag hinaus.

Graf Schwerin von Schwanenfeld stand zu seinen Überzeugungen und zu seinem Widerstand. Vor dem Volksgerichtshof, von Freisler angebrüllt, sagte er mit klarer Stimme: "Ich dachte an die vielen Morde …"

"Ein Christ und Offizier, der verbündet war mit Männern, die ihm seiner Herkunft und seiner politischen Tradition nach so vollkommen entgegengesetzt waren: mit Marxisten und Gewerkschaftlern", so Heinrich Böll, der einem jungen Katholiken den Grafen Schwerin von Schwanenfeld als großes Vorbild nannte.

Wir denken an Carl Goerdeler, Generaloberst a. D. Ludwig Beck, an deren Vertraute, an die Oppositionellen des Kreisauer Kreises, der Freiburger Kreise oder aus dem Kölner Ketteler-Haus.

Wir denken an den hessischen Innenminister und Gewerkschaftsführer Wilhelm Leuschner, der mit seinen Mitstreitern verstärkt seit Anfang der 1940er Jahre ein weit verzweigtes ziviles Widerstandsnetz geschaffen hat. Wir denken an Adolf Reichwein, Julius Leber, Ernst von Harnack, Theodor Haubach, Ludwig Schwamb und Carlo Mierendorff. Sie alle wurden Opfer des Krieges oder der nationalsozialistischen Blutjustiz.

Wir gedenken auch der weniger oder oft gar nicht bekannten Menschen im Widerstand. Ich erinnere stellvertretend für sie alle hier nur an den Schreiner Johann Georg Elser aus Heidenheim, der bereits ganz früh – nämlich am 8. November 1939 mit seinem Bombenattentat auf Hitler im Münchner Bürgerbräukeller – versuchte, den Krieg zu verhindern.

Der 20. Juli 1944 sollte das Ende des Grauens werden, aber vor allem ein politischer Neubeginn. Darum existierte für die Phase danach eine geheime, gut organisierte zivile Widerstandsstruktur nicht nur in Berlin oder Brandenburg, sondern auch in Mecklenburg und Hessen.

Noch in der Nacht zum 21. Juli 1944 streute die nationalsozialistische Propaganda bewusst die Lüge von einer kleinen, verschworenen Clique. Aber die mit 400 Beamten angestrengte Untersuchung der Hintergründe des Umsturzversuchs führte schon nach kurzer Zeit im Justizministerium zu der Einschätzung: "Der 20. Juli wächst uns über den Kopf. Wir werden der Sache nicht mehr Herr."

Die Breite des Bündnisses vom "20. Juli 1944" in Verbindung mit der Entschlossenheit der Attentäter überraschte die Nazi-Fanatiker und befeuerte ihren Hass. Sie haben die Asche der Ermordeten auf den Feldern vor Berlin verstreut, damit niemand ihrer gedenke. Allein: Wer Asche zerstreut, um Gedenken zu verhindern, der versteht nichts von der Flamme der Freiheit, der Glut der Gerechtigkeit und der Strahlkraft der Demokratie.

Der "20. Juli" zeigte den Nazis, dass Otto Wels´ am letzten Tag der Republik von Weimar im Parlament gesprochene Worte in jeder Weise zutrafen: "Kein Ermächtigungsgesetz gibt … die Macht, Ideen, die ewig sind und unzerstörbar …, zu vernichten."

Mit dieser Gedenkveranstaltung setzt die Bundesregierung jedes Jahr neu ein Zeichen dafür, dass jeder rechtlosen Willkür ein Recht auf Widerstand entgegen steht und dass ein geeintes Europa zu den Lehren aus Nazibarbarei und Diktatur gehört.

64 Jahre nach dem barbarischen, mörderischen Willkürakt in diesem Hof sind wir dankbar, dass wir auf dem Weg des Friedens und der Gerechtigkeit in Europa entschieden vorangekommen sind.

Wir wollen auch die Angehörigen der Opfer nie vergessen. Gerade was die Tage, Monate und Jahre nach dem 20. Juli 1944 angeht. Als Offiziere ahnten die Männer des "20. Juli" wohl, was der politische Mut eines Militärs den Frauen und Kindern abverlangen würde.

Die Nazis sprachen von "Verräterblut", schworen "Sippenhaft und Ausrottung". Gauleiter verhafteten einen dreijährigen Halbwaisen oder den 85-jährigen Vater eines Vetters eines Offiziers. Die Gestapo schleppte Kinder in Heime und Mütter ins KZ. So ging es den Familien Schwerin, Stauffenberg, Haeften und vielen anderen.

Als Anfang der 1950er Jahre an dieser Stelle die Gedenkfeiern begannen, mussten diese Kinder immer noch hinnehmen, dass ihre Väter, die sich dem Völkermord entgegen gestellt hatten, im Alltag der jungen Demokratie als Verräter geschmäht wurden. Die Frauen des "20. Juli" blieben persönlich und gesellschaftlich in einer Weise alleine, die wir uns heute wohl nur schwer vorstellen können. Gerade darum gedenken wir auch ihrer heute.

Die Schicksale der Familien werfen ein Schlaglicht darauf, dass nach der Befreiung Deutschlands die Lernprozesse in der Gesellschaft und zwischen den Generationen zunächst nur langsam vorankamen. Nicht zuletzt das kritische Nachfragen einer jüngeren Generation Ende der 1960er Jahre wurde hier zum Katalysator.

Eine der wichtigsten Lehren aus dem "20. Juli" ist für mich, dass wir die europäische Verständigung und Einigung weiter voranbringen und vermitteln müssen.

Zu den zentralen gemeinsamen Forderungen des Widerstandes zählte, an die Stelle des übersteigerten Nationalismus die deutsch-französische, die deutsch-polnische und die europäische Verständigung zu setzen. In dem Ziel eines vereinten Europas waren sich der schwäbische Adelige Graf Schenk von Stauffenberg und der Sozialistenführer Julius Leber völlig einig.

Unsere Verfassung beginnt bewusst mit dem Bekenntnis zu Europa. Dass der Nationalstaat nie mehr Selbstzweck sein dürfe, sondern wachsen müsse zum Resonanzraum der europäischen Verständigung, darüber waren sich viele, die im Widerstand waren, einig. Sie dachten sowohl in Gefängnissen als auch in den Konzentrationslagern oder im Exil über eine europäische Zukunft nach, die Krieg und Faschismus nie wieder möglich machen würde. Europa ist die Frucht unserer Erfahrung.

So lautet eine weitere Lehre aus dem "20. Juli" für mich: Der Wiederbelebung der Nazi-Parolen und -Propaganda müssen wir mit aller Entschiedenheit entgegentreten. Wenn etwas auf unseren Straßen und Plätzen nie wieder Bleiberecht hat, dann sind es antijüdische sowie ausländerfeindliche Kundgebungen und Gewalttaten.

Wenn es wieder Parteien gibt, die ihre braune Suppe kochen wollen, wenn Funktionäre in Landesparlamenten die Demokratie mit Stiefeln treten und sich ihre Demokratieverachtung durch die Steuern der Bürgerinnen und Bürger auch noch bezahlen lassen wollen, dann müssen wir das unterbinden.

Wir dürfen nicht tatenlos zusehen, wie die NPD immer unverfrorener menschen- und demokratiefeindliche Aktivitäten betreibt. Diese Partei erinnert bewusst und provozierend an die Frühzeit der NSDAP. Wir können es nicht zulassen, dass eine verfassungsfeindliche Partei wie sie weiterhin agieren kann.

Ein neues Verfahren zum Verbot der NPD muss vorbereitet werden. Darum ist es richtig, wenn wir im Parlament über ein Verbot erneut nachdenken. Wir sollten es beschließen. Die öffentlich zugänglichen Belege liegen vor.

Wir gedenken heute hoher Offiziere im Staatsdienst, ihrer Familien und ihrer Verbündeten. Wir sind uns einig: Das, wogegen sie aufgestanden sind, darf sich niemals wiederholen.

Wir sind es den Familien des "20. Juli" schuldig, dass dieser Tag immer auch ein Tag von Bedeutung für die jungen Leute bleibe, die jetzt in einer Demokratie aufwachsen, in einem friedlichen Europa, wo Nachbarn Freunde sind, wo Nationalflaggen sich – wie jetzt wieder bei der Fußball-Europameisterschaft – fröhlich mischen und verbinden und wo Religionen sich auf ihre Gemeinsamkeiten besinnen und Frieden auf Dauer schaffen wollen.

Wir stehen hier in Dankbarkeit für das, was mit dem Grundgesetz an Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verwirklicht ist, was für die Menschen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus noch eine ferne Vision war.

Der "20. Juli" und die deutsche antinazistische Widerstandsbewegung gehören zu den Fundamenten unserer Demokratie. Wir bekennen uns in unserem Grundgesetz zu diesen Fundamenten für alle Zeit.







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