"Denn der Herr, dein Gott ist ein barmherziger Gott; er wird dich nicht verlassen noch verderben."

Kurt Scharf

„Denn der Herr, dein Gott ist ein barmherziger Gott; er wird dich nicht verlassen noch verderben.“

Predigt von Bischof Dr. Kurt Scharf am 20. Juli 1969 in der Sühne-Christi-Kirche, Berlin

Predigt über Matth.7, 7-12 und 5. Mose 4, 30

Liebe Gemeinde, liebe Brüder und Schwestern,

beide Texte, der neutestamentliche und der alttestamentliche, die wir soeben vernommen haben, reden zum Volke Gottes. Auch das Du im alttestamentlichen Text redet Israel an. Mose erinnert das Volk an seine Berufung und warnt das Volk vor dem Abfall von dem einzigartigen Gott. Das Volk wird sich dennoch immer wieder den Götzen zuwenden. Gott hat es befreit aus der Knechtschaft. Gott hat ihm sein Land, das Heilige Land, gegeben, und dennoch wendet es sich den sichtbaren Götzen, den mit Händen zu greifenden, irdischen Mächten und Werten zu. Gott kündigt dafür dem Volk das Gericht der Geschichte an: Verfolgung, Vernichtung, Zerstreuung – Zerstreuung unter alle Völker der Erde.

Und dann folgt unser Text: „Wenn du geängstet sein wirst und dich das alles treffen wird in künftigen Zeiten, so wirst du dich bekehren zu dem Herrn, deinem Gott, und seiner Stimme gehorchen.“ Und danach heißt es: „Denn der Herr, dein Gott ist ein barmherziger Gott; er wird dich nicht verlassen noch verderben.“ „Wenn du den Herrn, deinen Gott, suchen wirst, wenn du ihn von ganzem Herzen und von ganzer Seele suchen wirst, so wirst du ihn finden.“

Liebe Brüder und Schwestern, auch das Wort aus der Bergpredigt redet nicht Einzelne an. Das Ihr ist nicht eine Summe von Einzelnen, sondern Gottes Volk im Neuen Bunde. Jesus Christus gibt der Gemeinde der Jünger einen Ratschlag. Er fordert von der Gemeinde der Jünger: Betet! Bittet! Bittet eindringlich! Dabei nennt er den Gegenstand der Bitte nicht! Er sagt nicht zu, dass der einzelne Wunsch, den wir vor Gott bringen, von Gott auch erfüllt wird. Wir dürfen Gott konkrete Wünsche vortragen. Wir dürfen im Gebet unsere Sorgen Gott unterbreiten, aber die Zusage Gottes gilt nicht einzelnen Wünschen. Sie gilt dem, der sich im Gebet, in seiner Bitte ganz Gott zuwendet. Gottes Wort verspricht nicht, wenn Verschwörer ihn um seinen Beistand bitten, dass das Attentat gegen den grausamen, furchtbaren, Vernichtung bringenden Tyrannen gelingt. Gottes Wort verspricht dem Beter nicht, wenn er in der Haft seiner Zelle um Befreiung fleht, dass er frei wird aus der Gefangenschaft, dass er überleben darf; aber Gottes Wort sagt zu: Wenn du Volk des Neuen Bundes, wenn du, Gemeinde der Jünger, Gott bittest, dann wird er gegenwärtig sein in seinem Volk, dann wirst du seine Gegenwart und seine Macht und seinen Geist spüren mitten unter dir, du Volk Gottes im Neuen Bunde!

Und auch wenn Verfolgung dich trifft und Vernichtung dich schlägt, und wenn du auseinander gesprengt wirst, Gemeinde der Glaubenden, wie das Volk des Alten Bundes unter die Nationen der Erde – er ist bei dir, wenn du zu ihm betest, wenn du ihn suchst von ganzem Herzen und von ganzer Seele. Liebe Brüder und Schwestern, hier gilt das Gleiche wie bei der ersten Forderung Jesu: Die Verheißung richtet sich nicht auf einzelne Werte, die wir suchen. Wenn wir zurückblicken und die Werte der Vergangenheit suchen, wenn wir ihnen nachtrauern, Werten, die uns verlorengegangen sind in der Geschichte der letzten 20 Jahre – Gott sagt uns nicht zu, dass wir das, was uns so lieb war, wieder empfangen werden, Größe und Ehre und Einfluss unserer deutschen Nation oder auch die Einheit der deutschen Nation in früheren Grenzen. Er sagt uns aber zu, wenn wir als seine Gemeinde ihn suchen, dass wir seine Zukunft finden werden! Gottes Zukunft ist der Wert, auf den unser ganzes Herz und unsere ganze Seele sich richten soll. Ihn stellt er uns in Aussicht: Ihr werdet meine Zukunft finden.

Klopfet an die Wand der Zukunft der Geschichte, an die dunkle Wand, an das düstere Geheimnis der vor uns liegenden Schwierigkeiten und Nöte und vielleicht auch Weltkatastrophen. Seine Gemeinde soll an die Wand der Geschichte, die uns von der Erkenntnis der Zukunft trennt, klopfen! Wir sollen mit Macht an diese Wand schlagen, mit den Fäusten des Gebetes, und dann wird die Wand sich öffnen. Das sagt die Verheißung Jesu Christi aus der Bergpredigt. Dann wird Gottes Königtum sichtbar vor unseren Augen, sein Königtum über Erde und Himmel. Dann wird Gottes ewiges Reich von unseren Augen wahrgenommen werden.

Wir halten Rückblick auf die Ereignisse des 20. Juli vor 25 Jahren. Wir schließen in unser Gedenken alle Opfer jener entsetzlichen, gesetzlosen Tyrannis in allen Ländern ein, so wie uns gestern unser Bundespräsident dazu gemahnt hat, auch die Juden, auch die Polen und die Russen und die Holländer und Norweger und Franzosen und Dänen und auch die „Rote Kapelle“, auch die Kommunisten jener Zeit! Das Besondere jener Zeit für uns, die wir sie als Christen erfahren haben, war, dass Gottes Gegenwart und Gottes Macht für uns plötzlich Wirklichkeit wurde. Als du geängstet worden bist, da hast du mich erfahren. Wir haben in jenen Jahren gelernt: Gottes Wort, Gottes Gegenwart, Gottes Macht, Gottes Geist sind Realitäten in dieser Welt! Und auch wenn wir unterlagen und wenn wir zu verzagen drohten, haben wir sie gespürt. Wir haben über Gott, über seine Wirklichkeit, nicht nur untereinander gesprochen, sondern gerade auch mit denen, die anderen Glaubens waren, mit Juden und mit Kommunisten. Wir haben mit ihnen über das, was uns Gottes Wort in jener Zeit war, ohne Polemik – gemeinsam fragend – sprechen können.

Auf dem Kirchentag, von dem ich komme, ist viel vom 20. Juli 1944 die Rede gewesen in den Diskussionen, in den verschiedenen Arbeitsgruppen, in der Gruppe „Streit um Jesus”, die Frage gestellt: Wäre das denn heute ähnlich denkbar, wenn eine ähnliche Tyrannis über uns käme, dass die Jugend unseres Volkes sich zusammenfinden würde unter Gottes Wort, dass sie Kraft zum Widerstand empfangen würde aus dem Wort Gottes? Überall in den Ständen beim Kirchentag liegt das Büchlein aus, das Helmut Gollwitzer, Käte Kuhn und Reinhold Schneider 1954 herausgegeben haben: „Gefangenschaftsbriefe“, Briefe und Kassiber aus der Haft jener Jahre, letzte Aufzeichnungen, letztes Vermächtnis von zum Tode Verurteilten. Das Büchlein trägt den Titel: „Du hast mich heimgesucht bei Nacht...“

Liebe Freunde, Dokument auf Dokument bestätigt für diese Untergehenden: Sie hatten ihren Willen nicht durchsetzen können, sie hatten im Kampf mit dem Bösen die entscheidende Niederlage erlitten, sie waren mit ihren Plänen gescheitert, und nun ging es für sie um die Frage der Gerechtigkeit Gottes und der Gegenwart Gottes, um die Frage seiner Existenz, und sie alle wurden seiner gewiss. Alle die, von denen wir da lesen, eine lange, lange Kette von Zeugen, haben die lebendige und leibhaftige Gegenwart Jesu Christi erfahren. Wäre das heute denkbar unter deutscher Jugend, bei der heutigen Auseinandersetzung in der Theologie und bei dem Bild von Frömmigkeit, das heute christliche Gemeinde und junge Gemeinde uns darbietet?

Ich meine: Ja! Im Vertrauen auf die Zusage, die die Losung dieses Tages enthält, das Wort aus dem Alten Bunde, antworte ich: Ja, wir und sie, die Jungen, würden Gottes Gegenwart und Gottes Macht wieder genauso erfahren unter seinem Gericht, wie wir sie damals erfahren haben. Wir sind 1933 in die Auseinandersetzung mit der politischen Tyrannis hineingegangen, nicht besser gerüstet, als die Jugend heute in eine solche Probe ziehen würde. Wir haben damals im Apostolikum-Streit und unter der Theologie der Entmythologisierung ganz ähnlich geredet und geglaubt wie heute die junge Generation in ihren markanten Sprechern. Und dann hat Gott unsern Glauben auf die Probe gestellt, und wir haben erfahren, dass sein Wort eine einzigartige Gewalt, eine einzigartige Qualität hat, dass es stärker ist als die Werkzeuge der Folterung und als die Waffen einer äußeren – militärischen oder polizeilichen – Macht. Wir würden dies wieder erleben, wenn Gott seine Christenheit in Deutschland neu auf die Probe stellen würde. Denn er hat es seinem Volk zugesagt, seinem Volk Israel im Alten Bunde und der Jüngergemeinde im Neuen Bunde: „Wenn du geängstet sein wirst und dich das alles treffen wird in künftigen Zeiten, so wirst du dich bekehren zu dem Herrn, deinem Gott, und seiner Stimme gehorchen.“ Es ist dies eine Erfahrung der Geschichte – in der Geschichte des Volkes Israel und in der Geschichte der Kirche – wieder und wieder, Jahrhundert für Jahrhundert.

Und das ist nun auch das Vermächtnis jener, die im Glauben an Jesus Christus am 20. Juli und um den 20. Juli 1944 herum ihr Leben gelassen haben im Kampf für Recht und Gerechtigkeit, für Freiheit und Wahrheit, für Menschlichkeit in unserem Volk: Der verdeckte Gott, der bei Tage so oft für unsere Augen verdeckte Gott, wird sichtbar in der Nacht. In der Nacht der Prüfung, da sucht er sein Volk auf, und da lässt er sich von seinem Volke finden.

Liebe Gemeinde, wir sollen nicht beten um Not, um Gericht und um Prüfung. Aber wir dürfen beten um die Erfahrung seiner Gegenwart, so wie wir sie in der Zeit der Angst gespürt haben.

Amen.