Der 20. Juli 1944

Theodor Heuss


 Der 20. Juli 1944


Ansprache des Bundespräsidenten Prof. Dr. Theodor Heuss am 19. Juli 1954 im Auditorium Maximum der Freien Universität Berlin


Der Sinn dieser Stunde kann nicht sein, ein Geschichtsbild jener Vorgänge zu entwerfen, die zu dem 20. Juli 1944 führten, und dabei den Beitrag, die Haltung der einzelnen Männer zu charakterisieren. Es geht auch nicht um Klage und Anklage, so stark wir empfinden, wie die Erinnerung an den Gatten oder Sohn, den Vater oder Bruder gerade heute alten Schmerz aufwühlt. Dies beides aber bewegt unsere Seele: bekennen zu dürfen und danken zu können.


Das Bekenntnis gilt nicht nur den inneren Motiven, sondern es umfasst auch das geschichtliche Recht zu ihrem Denken und Handeln. Der Dank aber weiß darum, dass die Erfolglosigkeit ihres Unternehmens dem Symbolcharakter des Opferganges nichts von seiner Würde raubt: hier wurde in einer Zeit, da die Ehrlosigkeit und der kleine, feige und darum brutale Machtsinn den deutschen Namen besudelt und verschmiert hatte, der reine Wille sichtbar, im Wissen um die Gefährdung des eigenen Lebens, den Staat der mörderischen Bosheit zu entreißen und, wenn es erreichbar, das Vaterland vor der Vernichtung zu retten.


Hitlers Krieg gegen die Welt war damals militärisch schon verloren. Es wird heute wohl nur noch wenige Klardenkende geben, die das bestreiten wollen. Ich glaube, dass auch Hitler das wusste, aber mit der hysterischen Technik der Selbstbelügung sich darüber weghalf. Ein unsicheres Gewissen konnte ihn dabei nicht stören, da er gar kein Gewissen besaß. Er wollte es auch den anderen verbieten. Himmler hatte es, nach meiner Erinnerung, seinen Leuten in einem Erlas schlechthin untersagt, sich auf ein Gewissen zu berufen.


Der innere Zwiespalt, der durch Gruppen ging, war nicht so sehr die Sorge um die unmittelbaren Folgen. Das geschichtliche Wagnis ist keine Rechenaufgabe mit gesicherten Faktoren. Sie wussten auch, der Kampf gegen Terrorismus bezieht von dieser Haltung selber das innere Recht, bis zu einer Neugestaltung der öffentlichen Rechtsordnung auch die harten Instrumente der sogenannten Staatsräson zu benutzen. Aber wie wird das Unternehmen, wenn es glückt, in das Geschichtsbewusstsein der nachfolgenden Geschlechter eingehen?


Darf ich von einem Gespräch mit Goerdeler erzählen, der mich Ausgang 1943 in Stuttgart aufsuchte? Es ging um die Frage: Wird es nach dem geplanten Attentat zu einer neuen „Dolchstoß-Legende“ kommen? Sie wissen alle: der Erste Weltkrieg war, wenn ich so sagen darf, militärisch reell verloren worden. Aber das dauerte nicht lange, dann kamen die Broschüren: „Im Felde unbesiegt“, die Heimat hat „versagt“, hat sich der siegenden Truppe versagt – Sie kennen das ja. Die Politik der zwanziger Jahre ist mit dieser bösen Lüge überbelastet gewesen, auch Hitler war ihr unbekümmerter Nutznießer – kann sich derlei wiederholen? Ehrgeizige und hemmungslose Demagogen mögen überall warten. Gibt man ihnen ein Arsenal, aus dem die Rückgewinnung eines einheitlichen Volksgefühls, der tragischen Nüchternheit wieder gefährdet werden kann? Ich meinte damals: damit wird man fertig werden, wenn erst die Ruchlosigkeiten und Rechtslosigkeiten dieser Zeit in ihren Dokumenten vorliegen – ach, ich muss heute sagen, ich kannte sie in ihrem Ausmaß gar nicht. Habe ich Recht behalten in diesem Glauben? Ich möchte es hoffen dürfen, wenn freilich wir gelegentlich die Fingerübungen einer schmähenden Tonfolge zu hören bekommen.


Der 20. Juli steht in einer anderen Atmosphäre als sie das Schicksal anderer Opfer umgibt, der vielen Tausende, die ihre Ablehnung des Hitlertums zu den Misshandlungen in den Konzentrationslagern führte, in den Tod, jener Zahllosen, die, in der inneren Emigration, im wechselseitigen Vertrauen sich stärkend, durch das wüste Denunziantentum, eine Frucht jeder Diktatur, stets bedroht blieben und ihr Opfer wurden; jener hilflosen Menschen, die durch nichts anderes als durch ihre jüdische Herkunft Freiwild für Verleumdung, Verfolgung, Vernichtung geworden.


Dies Drama ist auch in einem anderen Stil geschrieben als die heroische Ballade, die mit dem Namen und Ende der Geschwister Scholl und ihrer Freunde verbunden bleibt. Man mag da nicht von „Verschwörung“ sprechen, wo der Zwang eines gequälten Gewissens, wo die Scham über Untat und Lüge junge, reine Seelen dazu trieb, andere junge Seelen zur Verantwortung vor Gott und sich selbst zu wecken, um des deutschen Namens willen.


Natürlich war auch in diesem Kreise des 20. Juli das elementar Sittliche die Bindung, hier stärker, dort schwächer wesenhaft religiös getönt, aber das Emotionelle dann doch in die rationalen Überlegungen eingegliedert. Man kann den politisch-psychologischen Aspekt wählen im deutschen Herkommen oder doch Bewusstsein. Bislang geschiedene Gruppen trafen sich im menschlichen Vertrauen. Ich habe einmal, eine Formel Luthers gebrauchend, gesagt: Der „christliche Adel deutscher Nation“ verband sich mit Führern der Sozialisten, der Gewerkschaftler und sie erkannten sich in dieser Begegnung. Männer der Kirchen, Männer des Staates, deren Leben treue Amtserfüllung in den verschiedenen Stufen des behördlichen Seins gewesen war, in der Verwaltung, im Außendienst und – Soldaten, Berufssoldaten, darunter Obersten, Generale, Heerführer. Das ist hier die eigentümliche Sonderlage, von vielen als das zentrale Problem betrachtet.


Manche halten es für eine zu heikle Frage, als dass sie heute, gerade heute erörtert werden dürfe. Es wäre vielleicht bequemer, gerade davon heute nicht zu reden. Ich bin nicht für solche Form von Bequemlichkeit, sondern halte es für einen Gewinn, wenn jetzt in ernsten Auseinandersetzungen Historiker, Theologen, Juristen, Soldaten sich darum bemühen, die Fragen in ihrer geistigen Tiefe auszuschöpfen. Mein Ehrgeiz kann es nicht sein, jetzt dazu einen theologischen oder rechtsphilosophischen Beitrag leisten zu wollen, aber das Bekenntnis zur Tat und zu ihrem Recht, von dem ich vorhin sprach, fordert ein Wort.


Als ich kürzlich mit einem früheren Berufsoffizier zusammen war, ich kannte ihn vorher nicht, meinte er, ich möge aber doch in der Gedenkrede nicht die anklagen, die nach dem 20. Juli, die bis zur Schlusskatastrophe weiterkämpften. Ich konnte ihn nur bitten, mich nicht für so töricht und ungerecht zu halten. Ich müsste dann ja Freunde und geliebte Verwandte anklagen, die Hitler, die den Nationalsozialismus hassten, aber als sie starben, glauben mochten, glauben durften, dass ihr Kämpfen Deutschland vor dem Äußersten vielleicht doch rette. Und der gute Truppenoffizier dachte an seine Leute!


Die Begriffe treten an: Widerstandsrecht – kann es zur Widerstandspflicht werden?


Militärischer bedingungsloser Gehorsam – aber das Militärstrafrecht stimuliert selber ein strafloses Außerkrafttreten seines Anspruches. Manchem mag dies bekannt sein, dass ein befehlswidriges Verhalten im Feld, das eine geglückte Entscheidung auf die sachliche und seelische Verantwortung eines Unterführers nimmt, in Österreich-Ungarn sogar rechtens ausgezeichnet werden konnte. Kriegsverrat – in den, nachdem der erste Schub gefallen, Hochverrat und Landesverrat ineinander schmelzen, Treueid – Offiziersehre.


Ich bin nie Soldat gewesen, aber man muss es nicht gewesen sein, um die Grenzsituation der sittlichen Entscheidungen – denn darum handelt es sich, handelt es sich immer – erspüren zu können. Ein Staat ist keine Kundmachung der Sentimentalität, keine Vereinigung wohlwollender Illusionäre, die nichts von der Erbsünde wissen, er ist eine Veranstaltung, die auf Befehlsgewalt und Gehorsamsanspruch beruht. Und dabei ist es, scheint mir, im Sachlich-Historischen zweitrangig, woher er seine innere Legitimation bezieht, von Gott, von der Volksidee, er ist, mit seinen geschichtlich wechselnden Apparaturen, mit seinen oft banalen, aber unentbehrlichen Zweckhaftigkeiten ein Ordnungssystem des menschlichen Zusammenlebenkönnens, eine Rechtsordnung. Befehlsgewalt und Gehorsamsanspruch haben in den paar Jahrtausenden der übersehbaren Geschichte, auch bei den verschiedenen Völkern, eine wechselnde Intensität.


Wir sprechen von der Lage in Hitlers Wirkungsraum und messen sie an dem, was deutsche Rechtsauffassung und deutscher Soldatensinn waren. Und nun kommen ein paar harte Sätze: Unrecht und Brutalität hatten schon bald nach der sogenannten Machtübernahme geherrscht, in dasGewand der Exekutive gekleidet. Aber die geschichtlich und staatsmoralisch entscheidende Peripetie des deutschen Schicksals erfolgte jetzt vor 20 Jahren im Juli 1934, als ein deutscher Justizminister seinem Auftraggeber gefügig war, durch ein Gesetz der nachträglichen globalen Rechtfertigung von Morden, die einen parteiinternen Machtkampf begleiteten, das Rechtsbewusstsein im Innersten erschütterten und ein Reichswehrminister es hinnahm, dass die Ermordung der Generale von Schleicher und von Bredow überhaupt nicht in den Bereich der Sühnemöglichkeit geführt wurde. Und die Wehrmacht, die damals noch Macht war, schwieg. Ich will jetzt nicht davon reden, dass dieser Wehrminister die Ehrfurchtslosigkeit besaß, noch vor dem Tode Hindenburgs die Vereidigung der Soldaten auf Hitler zu fixieren – es war das Gespenstische, dass in diesen Treueid auf Hitler die religiöse Formel „bei Gott“ aufgenommen war, die in dem früheren Eid auf die Verfassung dem Schwörenden anheim gestellt blieb.


In diesem „bei Gott“, das bei einem Mann von Hitlers Art rein taktischen Sinn hatte und schier blasphemisch wirkt, hatte er zugleich eine zerbrechende Kraft einmontiert: das Wort – Du sollst Gott mehr gehorchen als den Menschen! Dieser Fahneneid wurde einem Mann geleistet, der formal-„rechtlich“ und moralisch-geschichtlich einen mehrfachen Eidbruch schon hinter sich hatte.


Was ist der Eid? Ich denke jetzt natürlich nicht an jenen, der vor dem Gericht gefordert werden kann, und wo die falsche Wahrheitsbeteuerung schwere Strafe nach sich zieht, sondern an den Eid der Treue, der im germanischen Rechtssinn immer als ein Verhältnis der Gegenseitigkeit begriffen wird; auch der, dem Treue geschworen wird, ist an die Treue gegen die Schwörenden gebunden. Das mag man in den alten nordischen Geschichten und ihrem ständischen Freiheitssinn nachlesen. Herr Himmler hat sie gewiss nicht gekannt, so viel er vom Nordischen sprach, um mit dem Wort von der Treue die Botmäßigkeit Entrechteter zu drapieren.


Aber ich darf an die in Teilen schier ungeheuerliche Auseinandersetzung erinnern, die Bismarck in dem Schluss seiner „Erinnerungen“ mit Wilhelm II. unternimmt, als er, vom germanischen Lehnsrecht ausgehend, die Gegenseitigkeit der Treue anspricht und deren Verletzung, auf den Monarchen zielend, mit dem alten Wort „Felonie“ bezeichnet.


Dieser Hitler, durch seine brutal-subalterne Ichbezogenheit eingeschränkt, hat das Wesen einer „Gegenseitigkeit“, von der Bismarck spricht, gar nicht gekannt und gar nicht erfahren können.


Aber gilt es nun nicht, von diesem Sonderfall Hitler abgesehen, die objektive Norm der eidlichen Kraft, den „unbedingten Gehorsam“, zumal im Kriege, darzutun? Ich bin überzeugt, dass in dem letzten Weltkrieg, dieser „unbedingte Gehorsam“ gegenüber dem Befehlsberechtigten, der gestuften Fortsetzung des Obersten Befehlshabers, hunderte, tausende Male nicht gewährt wurde. Ich kenne selber aus Berichten eine Reihe von solchen Fällen. Man mag dabei unterscheiden zwischen Gehorsamsverweigerung und „einen Befehl nicht ausführen“. Der Regimentskommandeur, auch der Kompanieführer, tat in schwierigen Fällen bisweilen einfach nicht das, was vom höheren, rückwärtigen Stab kam, weil er, ob es sich um Angriff oder um das „Halten“ einer Stellung handelte, die Entscheidung auf seine Kenntnis der taktischen Lage, auf sein Gewissen nahm, was eigentlich verboten war. Das mochte ihn vor das Kriegsgericht, das mochte ihn zum Tod, das konnte ihn aber auch zum Ritterkreuz führen.


Das sind in den mittleren und unteren Stufen des Soldatentums Situationen, die nicht in eine rationale Norm passen. Aber es gibt Gehorsamsverweigerungen, die einen historischen Rang besitzen. Ich darf eine erzählen, der Hinweis eines Freundes hat sie mir vor geraumer Zeit in die Erinnerung zurückgerufen, sie war mir in den Niederschriften des Ludwig von der Marwitz schon einmal begegnet. Man wird mir, hoffe ich, nicht zu sehr verübeln: der Begriff des Preußischen wird seit einiger Zeit zu sehr strapaziert, aber davon will ich nicht breiter reden. Aber wenn irgendwo, dann steht Preußens Denkmal, das Wort als moralischer Begriff, der dann zugleich eine menschliche Haltung zeigt, in einer Dorfkirche der Mark Brandenburg, zu Friedersdorf.


Die Geschichte ist diese: Als die Sachsen in dem hin- und herwogenden Siebenjährigen Krieg königliche Sammlungen in Charlottenburg geplündert hatten, gab Friedrich, nach dem Wechsel der Kriegslage, dem Kommandeur des Regiments Gens d’armes den Befehl, ein Schloss des sächsischen Staatsministers Graf Brühl zu plündern. Marwitz wies den Befehl zurück, der eines Kommandeurs dieses Regiments nicht würdig sei, und schied aus. Der König wollte ihn wiederhaben, aber er weigerte sich. Auf dem Stein in Friedersdorf aber steht, der Neffe setzte ihn: „Sah Friedrichs Heldenzeit und kämpfte mit ihm in allen seinen Kriegen, wählte Ungnade, wo Gehorsam nicht Ehre brachte“. So mag das Preußische, Preußens „Gloria“, als moralische Substanz begriffen werden. „Nicht Ehre brachte“? Ist „die Ehre“ ein Ziel, zu dem man strebt? Nein, sie ist eine Gegebenheit, die man achten soll, um sie nicht zu verlieren.


In den Betrachtungen und Polemiken dieser Jahre kommt öfters der Begriff vor: „Offiziersehre“. Man erlaube mir zu sagen: Es gibt, vom Ethischen her, keinen Tarif der „Ehre“, der etwa die Verantwortung für sittliches Handeln und deren Beurteilung von den Sternen auf den Achselstücken abhängig sein lässt. Dass ständische Konventionen bestimmte Formeln eines Ehrenkodex geschaffen haben, und zwar nicht etwa bloß für den Soldaten, ist für die zentrale Frage schier unerheblich. Aber das ist ganz natürlich: Die Verantwortung vor der Geschichte wird bei den Soldaten, die einen Führerrang bekleiden, größer und tiefer sein, aber auch die innere Selbstprüfung stärker oder doch geschichtsträchtiger als bei einem Leutnant, bei einem Schützen oder Kanonier, der sich einfach in den paragraphierten Pflichtenkodex des Instruktionsbuches eingebunden, vielleicht auch in ihm gesichert fühlt.


Die seelische Situation von Hunderttausenden, von Millionen Soldaten war furchtbar, denn es zogen doch nicht bloß fanatisierte Nationalsozialisten ins Feld, sondern deutsche Menschen, darunter zahllose, die durch diesen Krieg hindurch, in dem sie sich durch ihre Tapferkeit auszeichneten, von einem dauernden inneren Konflikt begleitet waren. Das Beispiel prägt sich ein: Ich vergesse nie den Besuch eines jungen Freundes, sein Bruder stand als Frontarzt in der Ukraine, die Schlacht um Charkow begann, er spürte, dass der Tod auf ihn zuschritt, schrieb der Mutter einen Abschiedsbrief, in dem stand auch der Satz: „Sagt bitte nicht in der Todesanzeige, dass ich für den Führer gefallen sei, den ich hasse und verachte.“ Doch die Depesche des Regimentskommandeurs, die der Familie den Tod meldete, war rascher als jener Brief – die Anzeige hatte die zum Slogan gewordene Formel enthalten und die Mutter fühlte sich, neben dem Leid, zutiefst getroffen, dass der letzte Wunsch des Sohnes nicht erfüllt war. Halten Sie das bitte nicht für eine weichmütige Anekdote: Sie trägt in sich, einem geschichtlich namenlos Gebliebenen zugeordnet, die Tragik Ungezählter.


Und das schier Gespenstische daneben: Ein Brief meines Freundes Eberhard Wildermuth, des späteren Bundesministers, aus einer verdammten Ecke des nördlichen Russland. Er war das, was man eine soldatische Natur nennt, draufgängerisch und doch besonnen, durch beide Weltkriege mit tapferen Taten bis zum harten Ende schreitend – die Maginotlinie wurde von ihm durchstoßen!


In diesem Brief aber schrieb er mit dem grimmigsten Zynismus: Es sei ihm geglückt, eine Flasche Rotwein aufzutreiben, um gemeinsam mit seinem Stabsoffizier Heydrichs Ermordung würdig zu feiern. Wir sind geneigt, eine solche Situation shakespearehaft zu nennen, das Geschichtlich-Düstere und Paradoxe springt uns an.


Hitler selber war es, der den Widerstand provoziert hat. Der schmähende und höhnende Lärm dieses Wortes, die pathetische Selbststeigerung des Machtrausches war von einer Apparatur der bedrohten Ängstlichkeit umgittert. Die Technik der Umschirmung umkleidete jene Furcht vor dem, was er auf sich warten, auf sich zukommen spürte. Die Tat, sollte sie geschehen, konnte nur von einem Soldaten geschehen, den Rang und dienstliche Notwendigkeit zu ihm führten. Erinnern Sie sich noch, als früh genug Schillers Tell aus dem Leseplan der Schulen gezogen wurde, von der Bühne verschwand, dies Schießen sollte nicht als Vorbild gelehrt und Schauffachers Worte mussten stumm bleiben:


„Nein, eine Grenze hat Tyrannenmacht,


Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden,


Wenn unerträglich wird die Last – greift er


Hinauf getrosten Mutes in den Himmel


Und holt herunter seine ew'gen Rechte,


Die droben hangen unveräußerlich


Und unzerbrechlich wie die Sterne selbst.“


Und wenn es nicht etwas Peinliches hätte, Worte aus einem unedlen Munde an die Motive und das Handeln edler Männer heranzubringen – hier stehen sie: „Wenn durch die Hilfsmittel der Regierungsgewalt ein Volkstum dem Untergang entgegengeführt wird, dann ist die Rebellion eines jeden Angehörigen eines solchen Volkes nicht nur Recht, sondern Pflicht. Menschenrecht bricht Staatsrecht!“ Das sind Sätze aus Hitlers eigenem Bekenntnisbuch – ich habe sie vorgetragen, um jenen Gefolgsleuten des Mannes, die in der Verfremdung des 20. Juli ein Stück der inneren Selbsterhaltung gefunden zu haben glauben, mit den Argumenten ihres Heros entgegenzutreten.


War ich in dem, was ich sagte, etwas zu weit von diesem 20. Juli, seinen Tätern und seinen Opfern weggerückt? Es schien mir angemessen, ja notwendig, den Vorgang in die breitere Situation, wie ich sie begreife, einzubetten, auch den Grundsatzfragen nicht auszuweichen, die sich aus dieser einmaligen Sonderlage erheben, ohne von ihr die gewisse Norm erwarten zu dürfen. Ich will auch nicht von der Art, von dem gestuften Anteil der einzelnen Männer sprechen, von den Planungen, von den Aktionen in ihrem wechselnden Gewicht – das würde mir in dieser Stunde wenig angebracht erscheinen. Das Gemartertwerden brachte allen die gleiche Qual, um das Sterben durch den Strang, der sie schänden, durch die Kugel, die sie bloß vernichten sollte, der selbstgewählte Tod aus Verzweiflung, gab ihnen allen das gleiche Anrecht, dass der Dank ihr Opfer als ein Geschenk an die deutsche Zukunft würdigt.


Freilich, damals führte die Tat, indem sie misslang, zur letzten Entblößung des Hitler, des Himmler, des Goebbels. Damals wurde, Sie erinnern sich, und viele der Anwesenden haben ihre Schrecken erfahren, die Sippenhaft erfunden. Himmler hat sich ihrer drohend gerühmt, ganze Familien der Beteiligten sollten ausgetilgt werden. Das scheußliche Verfahren, in dem Rachegefühl und Abschreckungswille sich vereinten, ist ja in den Schlussphasen des Krieges auch als eine sozusagen strategische Waffe gebraucht worden. Etwa: Königsbergs Verteidiger wurde in einem Wehrmachtsbericht rühmend genannt – als ein paar Tage später die Stadt doch übergeben wurde, wohl in der Einsicht der menschenvernichtenden Sinnlosigkeit der Verteidigung, teilte der Wehrmachtsbericht mit, dass die Familie jenes Generals in Haft genommen sei. Das waren, glaube ich, nicht die Grausamkeiten, die aus der wachsenden Ratlosigkeit gegenüber der so deutlich gewordenen Niederlage im Affekt ausbrachen, sondern sie waren in jenem Menschentyp angelegt. In der Literatur, zumal auch der theologischen, wird das Phänomen Hitler und seiner Wirkung mit den Begriffen des Satanischen, des Diabolischen, zumal auch des Dämonischen behandelt. Ich will nichts dagegen sagen, aber es wird vom Pathos eines Volksleides auch dessen Vollzieher einiges geliehen – ich möchte glauben, dass wir mit den Worten niedrig und gemein auskommen.


Das war ja dann auch Goebbels grober Propagandafeldzug, darzutun, dass eine Gruppe verstimmter, ehrgeiziger Generalstäbler, dazu eine kleine Adelsschicht, ihre dienstliche, ihre gesellschaftliche Position retten wollte. Er wusste, dass das gelogen war, aber er hatte sich zum „Ordinärsein“ unter dem beklemmenden Jubel seiner Anhängerschaft bekannt – aber er hatte Erfolg, zumal auch im kriegsgegnerischen Ausland, das, in dem Wechselspiel der nationalsozialistischen und der eigenen Propaganda verwirrt, dem tragischen Vorgang mit kläglichem Versagen vor seiner Würdigung begegnete.


Sie konnten Bescheid wissen, sie wussten Bescheid, schon seit Becks Rücktritt 1938, seit Halders Londoner Demarche im gleichen Jahr, seit Josef Müllers römischen Gesprächen, seit Hassells und anderer Bemühungen. Aber sie schwätzten Goebbels nach. – Es hat lange gebraucht, bis sie begriffen: Hier war ein Unternehmen, das ein Volk retten sollte, indem es ihm die innere Freiheit zurückgewann, um den Weg zu einem gerechten Frieden zu finden, einem Frieden, in dem nicht Übermut oder tobender Hass wirken sollten, sondern die realistische Einsicht in die Lebensnotwendigkeiten einer Nachbarschaft, zugleich das nüchterne Wissen, dass Schuld auch Sühne fordere.


Die Männer, die sich hier fanden, mochten an Temperament verschieden genug sein, bedrängende Ungeduld neben der abwägenden Umsicht. Gewähr des Gewinns, das sah jeder, denn es waren keine verschwärmten Kinder, gab es nicht. Das eigene Leben war im Einsatz. Doch ein Wagnis will gewagt werden.


Der Untergang aber wurde zu einem Zeugnis innerer Gewissheit, ja Größe, und nicht bloß, weil er sich bei manchen vollzog vor einer so wüsten Figur wie dem Leiter des sogenannten Volksgerichtshofes. Keiner hat, denke ich, vor dem Sterben versagt, mochten die körperlichen Torturen die Seelen vorher zerquält haben. Das, was an Abschiedsbriefen, was an Niederschriften aus den dunklen Gefängnissen, aus den Lagern zu uns gekommen ist, sind tief erregende Dokumente. Aus den Sammlungen „Lautloser Aufstand“, „Aufstand des Gewissens“ sprechen sie zur Nachwelt.


Albrecht Haushofers groß geartete „Moabiter Sonette“ bedürfen keiner Notiz in einer Literaturgeschichte, sie sind Aussage einer menschlichen Haltung, die, in der sehr persönlichen Formung, Gültigkeit für den Nächsten besitzt, den Nächsten, der, in der anderen Zelle, das Gespräch mit dem Tode führt, mit jenen, denen seine Liebe galt und gilt, deren Sorge und Liebe ihn selber aufsucht, oder doch immer umhegt.


Ich glaube, das Pathos des Geschichtsvorganges, in den sie sich selber gestellt hatten, hat sie über das individuelle Schicksal hinausgehoben, mit all den Demütigungen und Erbärmlichkeiten, die der Tag, die die Tage oder Wochen oder Monate vor dem Sterben ihnen zutrugen.


Wir werden nicht verhindern können, dass in Hinterstuben diese oder diese Schmährede das Gedächtnis der Männer aufsucht, wir wissen auch, dass die Problematik, die immer und überall in der Geschichte, bei allen Völkern vorhanden ist, Staatsräson und menschliche Freiheit – ich habe das vorhin die „Grenzsituation“ genannt – mit diesem Vorgang nicht in eine Norm eingegangen ist.


Das öffentliche Leben sucht und bedarf der Normen, damit es im Recht geordnet werden könne, aber die Geschichte mag diese immer wieder in Frage stellen, ihre Überprüfung fordern, ja erzwingen.


Davon wollte ich einiges anklingen lassen.


Aber wenn ich am Beginn meiner Worte sagte, die Stunde soll Bekenntnis und Dank sein, so will ich das noch einmal aussprechen: Bekenntnis zur Gesinnung wie zum Rechte jener Männer, deren Tun Eberhard Zeller in seinem großen Werke unter das Wort gestellt hat „Geist der Freiheit“, Dank für ein Vermächtnis, das durch das stolze Sterben dem Leben der Nation geschenkt wurde. Die Scham, in die Hitler uns Deutsche gezwungen hatte, wurde durch ihr Blut vom besudelten deutschen Namen wieder weggewischt. Das Vermächtnis ist noch in Wirksamkeit, die Verpflichtung noch nicht eingelöst.