Der 20. Juli in der Gegenwart unserer Gesellschaft

Kurt Neubauer

Der 20. Juli in der Gegenwart unserer Gesellschaft

Ansprache des Bürgermeisters von Berlin Kurt Neubauer am 20. Juli 1976 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Als Gustav Heinemann zum ersten Mal als Bundespräsident hier an der Gedenkstätte in Plötzensee sprach – es war zum 25. Jahrestag der Wiederkehr des 20. Juli 1944 –, da schloss er seine Rede mit einem persönlichen Wort. Er sagte, ihn lasse die Frage nicht los, warum er im Dritten Reich nicht mehr widerstanden habe, und er gab die Antwort mit der Stuttgarter Erklärung der Evangelischen Kirche Deutschlands von 1945, in der Schuld bekannt wurde.

Überall in unserem Lande ist in diesen Tagen Gustav Heinemanns gedacht worden. Sein Tod hat vielen bewusster noch als zuvor gemacht, wie viel er uns zum Nachdenken aufgab.

Sein Bekenntnis zum 20. Juli 1944 gehört dazu. Gustav Heinemann hat jene Zeit als entschiedener und kompromissloser Gegner des Nationalsozialismus durchlebt. Es war ein Zeichen, dass er als Staatsoberhaupt der Bundesrepublik Deutschland sich an dieser Stelle in den Komplex der Fragen einbezog, die der 20. Juli 1944 aufwirft. Und er, der nichts mit den Nationalsozialisten gemein hatte, sprach von Schuld.

Gustav Heinemann hat uns viel zum Verhältnis von Bürger und Staat besagt. So grundlegend das Thema ist, er hat es nie abstrakt behandelt. Ihm ging es um die Bürger und ihr Verhältnis zu ihrem, zu unserem Staate, und ihm ging es damit auch um das Verhältnis unserer Bürger zu ihrer, zu unserer Geschichte.

Seine Rede damals zu diesem Tage gewinnt ihre Glaubwürdigkeit, weil er sich selber nicht ausnahm und sich als Bürger der Bundesrepublik Deutschland in der Geschichte des Deutschen Reiches sah, sich in sie hineinstellte und sich ihr stellte gerade dort, wo sie dunkel ist und es darauf ankam und ankommt, wie der Einzelne zu seinem Staat und dessen Wirklichkeit steht.

Ich spreche von unserem verstorbenen Bundespräsidenten, weil er im Gedenken an die Menschen des 20. Juli durch sein Eindringen in die Probleme und ihren Bezug auf sich selbst den 20. Juli ganz gegenwärtig machte. Er hat damit dem, was 1944 gewollt war, einen größeren Dienst erwiesen, als es feierliche Worte vermöchten, so angemessen sie auch vor den Toten des Widerstandes sind. Dass ihr Vermächtnis aktuell sei, dass niemand ihm ausweiche, dass wirklich vollzogen werde, worum es ihnen ging, darauf kam es Gustav Heinemann an.

Sein Beispiel, den 20. Juli gegenwärtig zu machen, trifft alle Deutschen, die zu jener Zeit erwachsen waren. Es bezieht sich, recht verstanden, auch auf Engagement und Entscheidung der Politiker und Wähler vor 1933. Alle sind hineingenommen in diese Fragen. Aber wie viel bedeutet der 20. Juli der jungen Generation, für die er nicht weniger wichtig ist und nicht weniger gegenwärtig sein sollte?

Es ist ganz selbstverständlich, dass die Jüngeren in unserem Lande den Zugang zum 20. Juli nicht auf dem Wege wie die Älteren finden können. Für sie stellt sich die Problematik nicht so. Sie leben in einem freiheitlichen und demokratischen und sozialen Rechtsstaat, und angesichts unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit fällt es nicht leicht, ihnen den 20. Juli mit jener Eindringlichkeit zu vermitteln, von der wir meinen, dass sie notwendig ist, weil das Verhältnis des Bürgers zum Staat nicht in Leistung und Wohlstand und Freiheit aufgeht.

Vor zwei Jahren machte der damalige Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister der Verteidigung in der Feierstunde zum selben Anlass auf die Flugblätter der ‚Weißen Rose’ aufmerksam. Er meinte, sie seien neu zu entdecken und unseren jungen Mitbürgern nahe zu bringen, weil sie in ihrem moralischen Rigorismus, in Sprache und Argumentation der geistigen Welt der heutigen Generation nahe stünden. Ich greife dies auf, weil wir versuchen müssen, den 20. Juli 1944 für die, für die er Geschichte ist, nicht wie Geschichte zu behandeln, über die wir hinaus sind und die uns nicht mehr betrifft, sondern ihn unseren jüngeren Mitbürgern so nahe wie möglich zu bringen. Das ist darum so wichtig, weil an dieser extremen Konfliktsituation unübertrefflich deutlich gemacht werden kann, was es bedeutet, in einem Staat leben zu dürfen, der nach den Grundrechten und einem Grundgesetz wie die Bundesrepublik Deutschland verfasst ist. Wenn der 20. Juli 1944 nicht in die Geschichte zurückgeschoben wird, sondern die Gründe und Handlungsweise der Menschen des Widerstandes über das Bücherwissen hinaus sozusagen staatsbürgerlich begriffen werden, dann steht es gut um die Bundesrepublik Deutschland.

In der Praxis indes ist das Vermitteln des 20. Juli, des Denkens und Handelns des Widerstandes nicht einfach. Vor zwei Jahren wurde gesagt, dass die Sprache der ‚Weißen Rose’ den Jüngeren wohl besonders verständlich sei und damit am ehesten geeignet, die Sache des Widerstandes gegenüber der Gewaltherrschaft lebendig zu machen. Das war, wenn ich richtig urteile, in einer Atmosphäre gesagt, die für Fragen an die Gesellschaft sehr offen war. Das radikale Denken im guten Sinne, das Bohren bis zu den Wurzeln der menschlichen, der gesellschaftlichen Probleme ist jedoch nicht zu jeder Zeit und nicht bei allen jüngeren Mitbürgern gleich weit verbreitet. Wir müssen die Jüngeren immer wieder daran erinnern, dass Wohlstand und Wohlbefinden, so wünschenswert und angenehm sie sind, nicht alles und schon gar nicht die Basis für das Bürgersein, für unseren Staat sein können.

Darum müssen wir herausheben, dass die politische Konsequenz aus dem 20. Juli nicht nur für die besondere, die gefährdende Situation gilt, sondern dass sie auch für den Alltag zu ziehen ist. Wenn man den Staat so haben will, wie wir ihn weitgehend in der Bundesrepublik Deutschland eingerichtet haben, wenn die Freiheit für jedermann täglich uneingeschränkt praktizierbar sein soll, dann sind Dispens von der Politik, Opportunismus, Gleichgültigkeit und Bequemlichkeit nur dem ersten Anschein nach ungefährlich, während sie in Wirklichkeit ein Staatswesen allmählich aushöhlen und untergraben. Sich im Alltag um die Dinge des Staates zu kümmern, zum Wohle und Nutzen der Gesellschaft spürbar beizutragen, Freiheit und Ordnung gleichermaßen zu wahren, dazu ruft der 20. Juli auf. Im Alltag zu handeln, damit erhalten bleibt, was geschaffen wurde, und ausgeschlossen bleibt, wogegen damals der Widerstand sich erhob, das ist unsere Pflicht. Auch das ist die Mahnung des 20. Juli, auch das ist seine fortdauernde Aktualität. Es liegt an uns, das bewusst zu halten und entsprechend zu entscheiden und zu handeln.

Wir haben den Menschen des 20. Juli und allen, die Widerstand gegen das Gewaltregime leisteten, zu danken. Sie haben vor der Welt bezeugt, dass es inmitten des Deutschland von damals das andere Deutschland gab. Ihrem Handeln verdanken wir, verdankt die Bundesrepublik Deutschland die moralischen Grundlagen für seine Existenz.

Wir verneigen uns vor den Opfer des 20. Juli 1944.







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20.07.1976
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