Tag der Offenbarung

Odilo Braun

Tag der Offenbarung

Predigt von Pater Odilo Braun OP am 20. Juli 1976 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Meine Freunde,

Tag der Offenbarung – der 20. Juli –, er war es vor 32 Jahren. Es ging in unserem Volke hoch her. Expansionswille, Rassenwahn und Größenwahn und ein sehr lautes Getue und Geschrei von dem, was alles werden sollte. Dann kam der 20. Juli, und als die ersten Opfer fielen, als der Kreis der Opfer immer größer wurde, da wurde es offenbar, wie viel stille Größe sich trotz des lauten Geschreis erhalten hatte, die ihr Leben, das wirklich echte, große Leben, im Verborgenen führte. Das war die Offenbarung, die klar aufzeigte, wie viele bei aller Staatsvergötzung ihren echten Gottesglauben bewahrt hatten und so, wie sie an Gott glaubten, an den Herrn und Lebensspender, so auch in Ehrfurcht Ihm und Seinen Geschöpfen, dem Menschen vor allem, in Ehrfurcht zugetan waren. Es war gefährlich, gegen den Strom zu schwimmen. Aber das alte biblische Wort, man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen, ist doch tausend- und millionenfach verwirklicht worden.

Ein Beispiel dafür: Der schlichte, oberschlesische Metzgermeister, der mit seinem kleinen Pferdewagen über Land fährt, um Schlachtvieh zu kaufen und dabei einem Arbeitstrupp begegnet, der aus ausgemergelten Gestalten, die gestreifte Anzüge tragen, besteht, und ihm wird klar, dass es sich da um ein Arbeitskommando des nahegelegenen Konzentrationslagers handelt. Er sah diese Menschen und ward von Mitleid gerührt. Er suchte in seinem Wagen und fand ein Butterbrot, das er unbeobachtet einem der dort Frohnenden zuwarf. Und nun kommt das Große: Fortan fährt er zwei- bis dreimal wöchentlich, verproviantiert mit Butterbroten, diese Straße, um den armen Menschen eine Guttat zu erweisen. Ein Beispiel für viele. Er selbst ist Familienvater, hat 8 Kinder, ist sich der Gefahr bewusst und geht doch diesen Weg, er muss ihn einfach gehen. Jedes Mal eine Stunde der Offenbarung.

Ich denke auch an eine Frau, die gerade in der Zeit nach dem 20. Juli zu ihrer ganzen Größe aufgewachsen ist, die wie eine Hellseherin immer wieder auf die Spur der Verhafteten und verborgen Gehaltenen gekommen ist, der es dann immer wieder gelang, Verbindungen herzustellen zwischen Verhafteten und Angehörigen und so die große Angst und das schwere Leid zu lindern wusste. Als Pater Delp schon zum Tode verurteilt war und in Tegel gefangen saß, erreichte sie auch ihn, das heißt den Hauptwachtmeister, dem sie dann Hostien und Messwein übergab, um Pater Delp das heilige Messopfer zu ermöglichen. Das war einfach Pflichterfüllung dem Herrn und Seinem Gebot gegenüber: Du sollst Deinen Nächsten lieben wie Dich selbst.

Wenn 32 Jahre vergangen sind, da ist manches abgeklungen. Viele, ja sehr viele von den damals unmittelbar Beteiligten sind inzwischen in die Ewigkeit eingegangen. Die noch Lebenden haben Abstand gewonnen. Man sagt ja, die Zeit heilt jeden Schmerz, und hinzu kam, dass wir alle in eine Hektik des Lebens hineingeraten sind, dass immer wieder neue Eindrücke das Alte verdrängen, ja vielleicht sogar in Vergessenheit geraten lassen. Wenn wir heute um uns schauen, ist es nicht so, dass vieles von dem lauten Schreierischen des Dritten Reiches wieder Wirklichkeit geworden ist, dass jeder meint, er müsse mitmachen, mitmachen beim Ringen und Erringen und Gewinnen, dass es einfach darauf ankommt, sein Leben reicher und bequemer, unbekümmerter und frei von Bedenken zu leben. Wir alle sind schon wieder in Gefahr, mitgerissen zu werden von einem Strom von Zügellosigkeit und Haltlosigkeit, dass wir meinen, wir würden etwas versäumen, wenn wir mit den anderen nicht mitmachen.

Vor einigen Tagen erlebte ich ein Beispiel. Man spricht heute so viel von der Frauenanstalt in der Lehrter Straße. Dort sind vier Anarchistinnen ausgebrochen und alles meint nun, mit Steinen werfen zu müssen auf diejenigen, die vielleicht mitschuldig geworden sind. Der einzige Fehler war vielleicht der, dass man diese Ausbrecherinnen in diese Anstalt legte. Die Frauenanstalt ist, das kann ich aus eigenem Erleben bezeugen, eine Musteranstalt, in der man sich bemüht hat, modernen, menschlichen Strafvollzug zu leisten. Viele der Insassinnen sind schuldig geworden in den Wirren der Nachkriegsjahre, zählen also auch irgendwie zu den Opfern des Faschismus. Dem Rechnung tragend, hat man versucht, sehr klug und sehr differenziert Begnadigungen vorzunehmen und diesen Menschen zu helfen, wieder Anschluss an ein normales Leben zu gewinnen. Das ist in vielen Fällen gelungen.

Vor einigen Tagen äußerte ich in einem Gespräch mit einem Akademiker die Befürchtung, dass durch das Geschehen der letzten Wochen dieses gute Werk der Resozialisierung behindert werden, dass es einen Rückschlag erleiden könnte. Ich brauche wohl nicht erst zu versichern, dass ich nicht zu dem Kreis der Sympathisanten von Anarchisten gehöre – ich war aber doch etwas bestürzt über die Reaktion, die sich darin äußerte, „dass man viel strenger und schärfer vorgehen und zupacken müsse; wer schuldig geworden ist, der müsse eben büßen“. Ich wusste mir nicht anders zu helfen, als dass ich ihm die Hand gab und sagte: Da bleibt uns beiden eben nichts anderes übrig, als zu beten, Gott sei uns beiden armen Sündern gnädig. Wieder ein Beispiel für viele, viele, dass wir wieder einer Stimmungsmache zum Opfer fallen, dass wir nicht mehr Menschen sind, die ihrem Gott und ihrem Gewissen verpflichtet sind, sondern einfach zu Mitläufern und Anbetern der Stimmungsmacher werden.

In diesen Tagen greift man unwillkürlich zu den Büchern, die im Zusammenhang mit dem 20. Juli 1944 erschienen sind, man betrachtet die Fotos der Opfer, man schaut sehr lange hin bei einzelnen der Bilder, man kann sich gar nicht davon losreißen, denn da wird etwas offenbar, was mit Irdischem nicht zu messen ist, was in das Überirdische, in das Heilige und Ewige hinüberreicht: Offenbarung des Menschlichen, des Ebenbildes Gottes.

Man muss man selbst bleiben, man muss den Mut haben, sich der Verantwortung bewusst sein dem heiligen Gott gegenüber.

Haben wir den Mut, wenn wir das Buch geschlossen haben, vor den Spiegel zu treten und hineinzuschauen und zu ergründen, was da offenbar wird.







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