"Der ist zum Sterben fertig, der sich lebend zu dir hält."

Christof Karzig

„Der ist zum Sterben fertig, der sich lebend zu dir hält.“

Predigt von Pfarrer Christof Karzig am 19. Juli 1971 beim Gottesdienst im Gemeindezentrum Plötzensee, Berlin

Predigttext: Josua 1, 9

In diesen Tagen ging wieder einmal die Nachricht von einem missglückten Attentat um die Welt. Und es folgte die andere von der anschließenden Hinrichtung der Beteiligten. Geschichtliche Analogien sind immer problematisch. Als einer aber, der vor 27 Jahren noch ein Kind war, fragt man sich dennoch: Wie wird eine solche Nachricht außerhalb des betroffenen Landes aufgenommen? Nur um diesen Aspekt soll es hier gehen; geschichtliche Analogien sind, wie gesagt, immer problematisch. Zwei Beobachtungen dessen, der also vor 27 Jahren noch ein Kind war, jetzt aber Pfarrer in der Gemeinde ist, in deren Bereich Plötzensee liegt, und der deshalb mit der Vorbereitung der Feiern für den diesjährigen 20. Juli beschäftigt war – zwei Beobachtungen sollen genannt werden: Nachrichten werden ja auch kommentiert. War da ein Kommentar bei uns zu hören oder zu sehen, der die Frage der Rechtmäßigkeit dieser Hinrichtungen stellte? Da war nur eine weitere Nachricht, nämlich die vom Protest des Haager Gerichtshofes gegen die Hinrichtungen ohne ordentliches Gerichtsverfahren. Sonst nichts, soweit ich beobachten konnte.

Zweitens: Die Meldungen aus Marokko standen zwar am Anfang der Nachrichten, waren aber immer wieder nur Meldungen unter anderen, die von Sterben und Tod berichteten: auf dem Weg in die Ferien, aus Fern- und Nahost und aus Nordirland – Hungertote sind ja schon kein Anlass mehr für aktuelle Nachrichten, es sei denn, es gehe um Tausende.

Wir gedenken in diesen Tagen derer, die täglich unter tödlicher Bedrohung gelebt haben, die am Ende von dieser Bedrohung betroffen worden sind. Aus vielen Gründen sind diese Menschen heute vielen fremd. „Nach einer Meinungsumfrage wissen 40 Prozent aller Bundesbürger nicht, was am 20. Juli 1944 geschehen ist“ – so stand es gestern in einer Zeitung. In einem sind sie uns auch fremd: Wir leben in unserer Welt, als ob es den Tod nicht gäbe. Wir schieben ihn beiseite. Wir tabuisieren ihn, wir blenden ihn aus, wie man heute sagt.

Wir haben ja auch kaum noch Berührung mit dem Tod. Wer stirbt denn noch bei uns zu Hause – und wenn, dann kann es passieren, dass die Treppenhäuser zu eng sind für den Sarg. Und wo kann man im Krankenhaus sterben – im Zimmer mit den anderen, die doch auf ihre Genesung warten? Dann höchstens im Badezimmer. Wir haben kaum noch Berührung mit dem Tod. Früher konnte man ihm im Zentrum des Ortes begegnen, auf dem Friedhof rund um die Kirche. Wir haben zwar heute sogenannte Zentralfriedhöfe, sie liegen aber am Rande der Stadt. Und wenn man dort einem Sarg begegnet, dann ist man vollends unsicher. Man läuft schnell weiter. Man harkt emsig an seinem Grab. Weil man kaum noch Berührung hat mit dem Tod, sterben auch die Trauersitten.

Schließlich: Es gibt keine Tageszeitung, keine Tagesschau und keine Nachrichtensendung ohne Todesmeldungen. Aber was sollen wir demgegenüber tun? Wir konsumieren diese Nachrichten wie die von Streiks, von der Mode, vom Sport.

Was wird aus einer Zeit, die nicht mit dem Tod, nicht mit ihren Toten lebt? Sie verliert das Verhältnis zur Geschichte. Sie verliert jedes Maß. Oder ist es umgekehrt: Weil wir jedes Verhältnis zur Geschichte verloren haben und nur noch zukunftsgläubig leben und weil wir angesichts gewaltiger technischer Möglichkeiten jedes Maß verloren haben, müssen wir deshalb den Tod ausblenden? Er müsste uns ja unsere Grenzen vor Augen halten. Er müsste uns zeigen, wie relativ unsere Zeit im Ablauf der Zeiten ist.

Dazu passt es denn auch, dass man unsere Zeit als die Zeit des Massentodes bezeichnen muss. Und dieser Massentod – Verkehrstod, Hungertod, Napalmtod – ist in völlig anderer Weise Schicksal, als er es je gewesen ist, in einer Zeit etwa, als man angesichts des Pesttodes die ersten Totentänze schuf. Der Massentod ist Schicksal, das wir in Händen haben, das wir vielerorts verhindern könnten. Der Tod hat heute sehr menschliche Züge. Der Mensch ist zum Tod des Menschen geworden. Der Mensch ist zum Tode Gottes geworden. „Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet! Es gab nie eine größere Tat, und wer nur immer nach uns geboren wird, gehört um dieser Tat willen in eine höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war. Hier schwieg der tolle Mensch“ – wir kennen diese atemberaubenden Sätze Nietzsches. Wozu also noch Geschichtsbewusstsein? Wozu die Grenze des Menschen erkennen? Wozu das Sterben?

Wir halten diesen gemeinsamen Gottesdienst zum 20. Juli in diesem Jahr zum ersten Mal im Gemeindezentrum Plötzensee. Es hat betontermaßen diesen Namen. Und im Zentrum des Zentrums ist diese Kirche, die das Leben in der Gemeinschaft betont mit ihren Bänken rund um den Altar. Aber diese Gemeinschaft lebt nicht ohne den Tod. Deshalb befindet sich der „Plötzenseer Totentanz“ in der Kirche – nicht wie traditionellerweise in einem Vorraum. Und da, wo sonst ein Kirchraum sonst seine Fenster hat, da sind die Fenster des Plötzenseer Hinrichtungsraumes auf den Tafeln des Totentanzes. Wir muten uns als Gemeinde zu, den Tod nicht auszublenden, wie es unsere Zeit tut. Wir muten uns das zu, weil wir ihn nicht zu tabuisieren brauchen. Der Tod gehört zum Leben hinzu – gerade in der Kirche, gerade bei den Christen, Das müsste eins der entscheidenden Merkmale der Christen in dieser Zeit sein. Sie können das ertragen: Der Tod gehört zum Leben hinzu. Denn mitten unter den anderen, die den Tod durch Menschen erfahren – Boxer, Schausteller, Demonstranten, Minderheiten, Hingerichtete – mitten unter denen hängt der Gekreuzigte. Der tote Sohn des Vaters hängt an den Fleischerhaken von Plötzensee. Der Gekreuzigte lebt und stirbt da, wo wir leben und sterben. Der auferstandene Gekreuzigte geht unsere Wege mit, damit sie Wege zum Leben werden, damit wir am Ort des Todes, in der Welt des Massentodes leben können.

Die Tafeln des „Plötzenseer Totentanzes“, die das darstellen werden, sind noch in Arbeit; der Gekreuzigte auf dem Weg nach Emmaus, zu dem Ort, wo man das Sterben vergessen wollte, und der Gekreuzigte, der dort, gerade dort als der Lebendige erscheint, so dass die Jünger wieder nach Jerusalem zurückkehren konnten, zurückkehren zum Ort des Sterbens. Der Ort des Sterbens kann von nun an der Ort des Lebens sein: „Jerusalem, du hochgebaute Stadt“. Christen können seitdem mit dem Tode leben.

Ich verhehle nicht, dass die moderne Vergleichgültigung des Todes ihre Wurzeln auch in christlicher Tradition hat, aber es handelt sich hier wie so oft um eine Perversion, hier um die Perversion des christlichen Auferstehungsglaubens. Er hat, recht geglaubt, den Tod nie ausgeblendet. Christlicher Auferstehungsglaube war immer Glaube an den Gekreuzigten. Würden wir den Tod tabuisieren, wir würden seine Macht gerade verstärken. Und das ist das Merkmal unserer Zeit. Der Tod herrschte noch nie so mächtig. Deshalb verdrängen wir ihn. Mit dem so verdrängten und damit erst recht zur Macht erhobenen Tod verlieren wir aber auch das Leben. So ist modernes „memento mori – gedenke, dass du sterblich bist“, so ist auch dieser Totentanz vor allem Aufruf zu sinnvollem Leben.

Der Graf von Moltke hat in einem seiner Abschiedsbriefe, geschrieben am Tag zwischen „Verurteilung“ und „Hinrichtung“, einen Satz aus dem Gesangbuch zitiert: „Der ist zum Sterben fertig, der sich lebend zu dir hält. Bei dir, Jesu, will ich bleiben“, heißt das Lied. Die biblische Losung für den morgigen 20. Juli heißt: „Habe ich dir nicht geboten: sei fest und unentwegt? So las dir nicht grauen und fürchte dich nicht! Denn der Herr, dein Gott, ist mit dir auf allen deinen Wegen.“(Josua 1, 9)

Amen.






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