Zum Gedenken unserer großen, unvergesslichen Toten

Odilo Braun

Zum Gedenken unserer großen, unvergesslichen Toten

Predigt von Pater Odilo Braun beim Gottesdienst am 19. Juli 1971 im Gemeindezentrum Plötzensee, Berlin

Meine Freunde!

Zum Gedenken unserer großen, unvergesslichen Toten sind wir wieder zusammengekommen. Vor dem Angesicht Gottes begegnen wir ihnen wieder. Und werden auch bei unserer Begegnung Wunden wieder aufgerissen, werden für uns die durchlebte und durchlittene Not und Qual wieder gegenwärtig – über alles fällt tröstend und heilend ein Strahl der Gnadensonne Gottes, bei dem wir unsere Toten wissen.

Aber auch heute noch gilt das Wort, mit dem Theodor Heuss seine Gedenkrede zum zehnten Jahrestag des 20. Juli 1944 geschlossen hat:

„Das Vermächtnis ist noch in Wirksamkeit, die Verpflichtung noch nicht eingelöst.“

Das Vermächtnis, das unsere Toten uns durch ihren Einsatz von ihrem heiligen Opfergang hinterlassen haben, ist unsere Verpflichtung. Aber auch für sie gab es eine Verpflichtung, aus einem Vermächtnis, das auch sie auferlegt bekamen.

Zum Herrn kam einmal ein Gesetzeslehrer, um ihn auf die Probe zu stellen. Er fragte Ihn, wie er sich verhalten müsse, damit er das ewige Leben erlange. Der Herr hält ihm eine Katechismusstunde und belehrt ihn: „Du sollst deinen Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen, aus deiner ganzen Seele, aus deinem ganzen Gemüt und mit allen deinen Kräften. Und deinen Nächsten sollst du lieben wie dich selbst.“ Der Gesetzeslehrer fragt ihn – vielleicht etwas schnippisch und vorlaut: „Wer ist mein Nächster?“ Als Antwort und Belehrung erzählt der Herr ihm das Gleichnis von dem barmherzigen Samariter.

Da war ein Mensch auf dem Wege von Jerusalem nach Jericho unter die Räuber gefallen, diese plünderten ihn aus, schlugen ihn zusammen und ließen ihn halb tot am Wege liegen. Ein Priester kam vorüber, sah ihn und ging vorüber. Vielleicht war er gerade mit theologischen Fragen beschäftigt. Auch ein Levit kam, sah ihn und ging vorüber. Vielleicht war er gerade sehr mit Diakonie-organisatorischen Fragen beschäftigt. Ein Samariter kam des Weges, sah ihn und war von Mitleid gerührt. In ihm war das lebendig, was der Herr dem Gesetzeslehrer als höchstes Gebot gegeben hatte: Gott zu lieben mit Herz und Seele und mit allen Kräften. Auf diesem Wege der Liebe dem unendlichen Gott, der die Liebe ist, näher zu kommen, Ihm immer ähnlicher, Ebenbild Gottes zu werden. So sah er auch in dem unter die Räuber Gefallenen das geschändete Ebenbild Gottes. Und darum sorgte er für ihn, soweit es in seiner Kraft stand.

In der Rolle des barmherzigen Samariters waren auch unsere Toten, derer wir gedenken, gestellt. Sie sahen, wie Brüder und Schwestern unseres Volkes, ja Brüder und Schwestern anderer Völker ausgeplündert, misshandelt, geschändet und ermordet wurden, und hier empfingen sie das Vermächtnis vom Herrn. Das Vermächtnis, dem sie nicht aus dem Wege gingen, dem sie sich verpflichtet fühlten, das sie eingelöst haben bis zum Letzten, ja bis zur Hingabe ihres Lebens. Dieses Einlösen ihrer Verpflichtung ist das Vermächtnis, das sie uns hinterlassen haben, das noch in Wirksamkeit, dessen Verpflichtung noch nicht eingelöst ist.

Auf ihrem Opferwege ist es unseren Toten buchstäblich ebenso ergangen wie dem Mann auf dem Wege von Jerusalem nach Jericho. Auch sie sind verabscheuungswürdigen Räubern in die Hände gefallen, die ihr unmenschliches Unwesen an ihnen ausgelassen haben, bis der größte Samariter, der Herr, der voll des Erbarmens ist, ihnen Seine göttliche Sorge zuteil werden ließ und sie zur Herrlichkeit Seiner Herberge heimgeholt hat.

Das Vermächtnis ist noch in Wirksamkeit, die Verpflichtung noch nicht eingelöst. Jetzt sind wir die Verpflichteten, deren Aufgabe es ist, die Verpflichtung einzulösen. Als wir nach dem Zusammenbruch ihr Vermächtnis empfingen, da waren wir voll heiliger Bereitschaft, auch die Verpflichtung einzulösen. Wir waren alle der Meinung, dass so Entsetzliches nie wieder von Menschen an Menschen begangen werden dürfe. Aber dann kam die Sorge um das eigene Leben, man sah und erlebte wie Menschen aus unserer Mitte heraus verschleppt wurden und in einem undurchdringlichen Dunkel verschwunden geblieben sind. Auch einige unserer Kampf- und Opfergefährten wurden von diesem schrecklichen Los getroffen. Menschenraub und Gewalttat sind seitdem an der Tagesordnung geblieben. Man ist dabei – aus irgendwelchen dunklen Gründen – ganze Volksstämme blutig auszurotten und eine ganze Welt schweigt, auch wir, die wir ein Vermächtnis empfangen haben, schweigen – weil wir uns nicht unbeliebt machen wollen, weil es unserer Karriere schaden könnte, weil wir meinen, politische und andere Rücksichten nehmen zu müssen und weil wir feige geworden sind, weil wir das Vermächtnis, dessen Verpflichtung uns obliegt, längst vergessen haben.

Wir bedienen uns der Rolle der Gesetzeslehrers und fragen: „Wer ist denn mein Nächster?“ und meinen damit aller Sorgen und Verpflichtungen und unserem Gewissen entronnen zu sein. Du und ich, wir alle Ebenbild Gottes, das wir nur sein können wenn wir das große Gebot der Gottesliebe in uns tragen, in dessen Gnadenkraft allein wir nicht zum Schuldigen und Schuldner werden an unserem Nächsten.

„Das Vermächtnis ist noch in Wirksamkeit, die Verpflichtung noch nicht eingelöst.“

Amen.






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