Der Soldat und der 20. Juli 1944. Das Recht des Widerstands gegen den das Recht brechenden Gewalthaber

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Johann-Adolf von Kielmansegg

Der Soldat und der 20. Juli 1944. Das Recht des Widerstands gegen den das Recht brechenden Gewalthaber

Gedenkrede von Generalleutnant Johann-Adolf von Kielmansegg am 20. Juli 1963 in der Bonner Beethovenhalle

Wenn irgendwo und irgendwann aus irgendeinem Anlass der 20. Juli 1944 in einem Gespräch, in einem Vortrag, in einer Diskussion auftaucht, so mache ich jedenfalls eine sich immer wieder bestätigende Feststellung. Es gibt dann mit Sicherheit Menschen - und es sind nicht wenige -, die fragen: „Muss denn immer wieder darüber geredet werden? Kann man nicht endlich diese Dinge auf sich beruhen und sein lassen was sie sind, eine Episode der Geschichte? Wir glauben ja gern, dass es eine heroische, eine notwendige Episode war, dass die Männer und Frauen aus edlen und hochstehenden Motiven handelten, aber ...“ und dann folgt eine ganze Reihe von „Aber“. Menschen, die so etwas sagen, sind meist ältere Menschen in dem Sinn, dass sie damals bereits erwachsen waren.

Jüngere aber, wenn sie mehr wissen als die Tatsache des Aufstandsversuchs und das Datum - und viele wissen das kaum - sind meist nur in einem historischen Sinn interessiert, fragen zwar nach dem Ablauf, aber wenig nach den geistigen Grundlagen, nach innerer Bedeutung, nach dem ihnen mit dem 20. Juli gegebenen Vermächtnis, neigen aus dem naturgemäßen Fehlen der eigenen Anschauung heraus dazu, Widerstand als etwas allzu Selbstverständliches anzusehen. Beide Gruppen sind auch unter den Soldaten der Bundeswehr zu finden und ich meine, man sollte mit ihnen darüber reden.

Ich will heute und hier keine Gedenkrede zum Tage der deutschen Erhebung halten. Ich möchte als Soldat der Bundeswehr und als ein Mann, der damals als Soldat den Weg zum Widerstand in Auseinandersetzungen mit sich selbst und mit anderen Schritt für Schritt gefunden hat, versuchen, in Kürze etwas zu dem Besonderen zu sagen, das in der Thematik „Der Soldat und der 20. Juli“, genauer ausgedrückt „Der deutsche Soldat und der 20. Juli“ enthalten ist.

Etwas Besonderes ist es schon, wenn man die Aufgabe des Soldaten bedenkt, wenn man das Gesetz von Befehl und Gehorsam erkennt und anerkennt, unter dem der Soldat als einziger Bürger im Staat steht und stehen muss. Das Treueverhältnis des Soldaten zum Dienstherrn ist ebenso etwas Besonderes, nicht im Grundsätzlichen, aber dadurch, dass er der Träger der bewaffneten Macht des Staates ist. Besonders schließlich und dies nicht zuletzt ist die Situation, in der der Soldat im Kriege steht, heute nicht mehr dadurch, dass der Tod ihn jede Minute bedroht, denn der Tod greift auch hinter die Fronten, aber dadurch, dass sein Auftrag der Kampf mit der Waffe gegen den angreifenden äußeren Gegner ist.

So ist es wohl selbstverständlich und erklärlich, wenn Verständnis und Erörterung des Problems des Widerstands unter Soldaten auf mancherlei besondere Hemmnisse stoßen. Dabei gewinnen von den an sich für alle geltenden Grundfragen zwei für den Soldaten ihr eigenes zusätzliches Gewicht, die Fragen nämlich: Gibt es ein Recht auf Widerstand? Kann oder muss ein gegebenes Widerstandsrecht in eine Pflicht zum Widerstand übergehen?

Natürlich werfen diese Fragen neben dem politischen zunächst und zuerst den moralischen Aspekt auf. Über ihn ist viel gesagt, geschrieben und diskutiert worden und er ist zweifellos der entscheidende. Ich möchte mich aber heute dem Problem einmal von einer anderen Seite her nähern, wobei dieser Weg gerade für einen Soldaten vielleicht etwas ungewöhnlich erscheinen mag, aber er ist zu wenig bekannt, dabei aufschlussreich und im Übrigen letztlich auch zum Moralischen führend. Die von mir aufgeworfene Frage ist nämlich, wie es schon im Wort liegt, auch eine rechtliche. Wenn ich mich an das fast verzweifelte Bemühen erinnere, zu erkennen, was man nun eigentlich dem von außen und innen gefährdeten Volke und Staate schuldig sei - und das nationalistische System verstand es meisterlich, in der „großen Maskerade des Bösen, das in so vielen ehrbaren und verführerischen Verkleidungen erschien“, wie Dietrich Bonhoeffer es zu Ende des Jahres 1942 ausdrückte, einen immer wieder in Gewissenskonflikte zu treiben -, dann kann ich jedenfalls für mich und wie ich glaube auch für viele andere sagen, dass ich mir damals nicht darüber klar war, dass es so etwas wie ein Recht auf Widerstand gab und immer gibt.

Dabei finden wir im abendländischen Rechtskreis, dass das Recht des Widerstands gegen den das Recht brechenden Gewalthaber so gut wie überall und immer anerkannt war und ist. Diese Anerkennung, ja Kodifizierung, hat in den Staaten angelsächsischen Rechts und auch in Dänemark praktisch bis heute keine Unterbrechung gefunden, wohl aber auf dem Kontinent, im Zeitalter des Absolutismus, wobei sie in Frankreich durch die Revolution von 1789 wieder zum Leben kam und lebendig geblieben ist. Ich bin kein Jurist und so dürfen Sie von mir hierzu keine tiefer gehenden juristischen Betrachtungen erwarten. Ich begnüge mich mit dem Hinweis, dass es ein voll ausgebildetes mittelalterliches Widerstandsrecht gab, gewachsen aus den drei Wurzeln eines breiten vormittelalterlichen germanischen Volksrechts, eines feudalen Widerstandsrechts des Lehnsstaates und eines von der Kirche entwickelten Widerstandsrechts, wie es Kern schon 1915 in seiner Schrift „Gottesgnadentum und Widerstandsrecht“ überzeugend dargelegt hat. Es gibt auch mehr als eine feierliche Beurkundung dafür, deren früheste wohl die „Straßburger Eide“ anlässlich des karolingischen Staatsvertrags von 842 zwischen Ludwig dem Deutschen und Karl dem Kahlen sind. Diese Straßburger Eide gehen auch gerade den Soldaten an, denn sie wurden von Soldaten gegenüber ihren Königen geschworen. Jeder der beiden königlichen Brüder entbindet seine Gefolgsleute von Treue und Gehorsam für den Fall, dass er den Vertrag verletze. Daraufhin, und auch die Reihenfolge ist wichtig, leistet jedes der beiden Heere den Eid, seinem Herrn die Gefolgschaft und die Hilfe zu versagen, wenn er selbst seinen Eid bricht. Später finden wir im „Sachsenspiegel“ des Eike von Repgow, um nur noch eine Beurkundung zu erwähnen, an zwei Stellen Widerstandsrecht und Widerstandspflicht verankert, einmal als individuelles Recht, zum Anderen als das Recht einer Mehrzahl von „Gerichtsunterworfenen“.

Hier wie überall im Widerstandsrecht ist der Grundgedanke der der Herrschaftsverwirkung, wenn der Herrscher durch seine Handlungen das Recht, unter dem auch er steht, bricht. Die Treuepflicht des Führers und des Geführten ist eine gegenseitige. Die der Treuepflicht des Gefolgsmanns immanente Gehorsamspflicht erlischt, wenn der Herrscher seine Treuepflicht zur Wahrung der bestehenden Rechtsordnung nicht mehr erfüllt. Das Kirchenrecht differenziert hier noch zwischen dem „tyrannus quo ad titulum“, dem Herrscher, der ungesetzlich auf den Thron gelangt ist und dem „tyrannus quo ad executionem“, dem Herrscher, der zwar gesetzmäßig den Thron bestiegen hat, der aber ungesetzlich regiert, als dessen Schulbeispiel mir Hitler erscheint.

Im Gebiet des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation wurde dieses Recht auf Widerstand immer unsichtbarer. In der Praxis erlosch es im 17. Jahrhundert mit dem Aufkommen der absolutistischen Fürstenstaaten und verschwand auch aus der Theorie, als in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sich in Deutschland der Rechtspositivismus durchsetzte. Für diesen war nur noch das staatlich gesetzte Recht Recht, nicht mehr aber das Naturrecht. So kam es, dass, als Deutschland nach 1933 durch vom immer mehr zum Organ der Partei werdenden Staat gesetztes „Recht“ ein Unrechtsstaat wurde, dieser Vorgang und seine Gefährlichkeit nur von wenigen und nur allmählich erkannt wurde. Das Volk aber und auch die Breite seiner Intelligenzschichten standen dieser Entwicklung mehr oder weniger blind und hilflos gegenüber, auch der Jurist, auch der Theologe und erst recht der Soldat.

Gerade für den deutschen Soldaten wäre die Problemstellung eine andere, die Entschlussfassung eine leichtere gewesen - und deshalb habe ich diesen kurzen Blick in die Rechtsgeschichte getan -, wenn er das Bewusstsein eines für ihn existierenden Widerstandsrechts gehabt hätte. Er hatte es nicht und so hatte auch das Problem des Eides für den Soldaten im „Dritten Reich“ eine sozusagen einseitige Bedeutung. Der Gedanke der Eidesentbindung, wenn der, dem der Eid geschworen war, seine aus dem eigenen Eid hervorgehenden Verpflichtungen nicht nur brach sondern gar in ihr Gegenteil verkehrte, konnte damals dem Soldaten nur kommen, wenn er sich wie Stauffenberg, um ihn stellvertretend auch für andere zu nennen, erschüttert durch seine Erkenntnis, in schweren inneren Kämpfen dazu durchrang.

Dass Stauffenberg wie viele andere vom 20. Juli ein gläubiger Christ war, führte mich dazu, die moraltheologische Seite des Widerstands und der Eidesbindung wenigstens zu erwähnen. Wer darüber mehr wissen will, lese die Arbeiten von Angermaier und Pribilla für die katholische, von Iwand, Wolff und Künneth und auch das Buch „Römer 13“ von Meinhold für die evangelische Theologie, um nur einige Namen zu nennen.

Es erscheint mir notwendig, an dieser Stelle dreierlei hinzuzufügen:

Im heutigen deutschen Staatsrecht finden wir in zwei Länderverfassungen Festlegungen über das Widerstandsrecht, in der Bremischen und der Hessischen. In der letzteren heißt es im ersten Absatz des Artikels 147: „Widerstand gegen verfassungswidrig ausgeübte öffentliche Gewalt ist jedermanns Recht und Pflicht.“ Interessant und im Sinne der Historie ironisch wirkt es, wenn wir in der am 31. Januar 1947 erlassenen Verfassung des heute nicht mehr existierenden Landes Mark Brandenburg lesen: „Gegen Gesetze, die gegen Moral und Menschlichkeit verstoßen, besteht ein Widerstandsrecht.“ Hierzu wie überhaupt zur Frage des Widerstandsrechts gibt es eine wichtige Arbeit des früheren Professors für öffentliches Recht der Universität Gießen, Heyland, in der er das Widerstandsrecht des Volkes im neuen deutschen Verfassungsrecht untersucht und auf die ich mich mehrfach gestützt habe.

In einem nach den Grundsätzen freiheitlicher demokratischer Lebensordnung aufgebauten und regierten Rechtsstaat, wie es die Bundesrepublik ist, stellt sich die Frage nach Widerstand nicht.

Die Frage der Ausübung des Rechts auf Widerstand und damit auch die Frage der Pflicht zum Widerstand stellt sich nur in der historischen Ausnahmesituation, nur in dem, was die Juristen den „äußersten Fall“ nennen; wenn also eine „rechtliche Organisierung des Widerstands“ nicht mehr möglich ist, mit anderen Worten wenn alle anderen Mittel sich als vergeblich erwiesen haben, dann tritt die Ausnahmesituation für das Ganze ein und wird für den Einzelnen, der sie erkennt, zur wohl immer unterschiedlichen inneren Grenzsituation. Gerade dies bitte ich nicht aus dem Auge zu verlieren.

Aber noch einmal zurück zur Frage des Eides. Wir müssen klar erkennen, dass die bindende Kraft des Soldateneides im Rechtsstaat nicht angetastet werden darf. Die Grenze liegt dort, wo es sich wie gegenüber Hitler um einen Cäsareneid handelt, wo das höherwertige Rechtsgut nur noch durch Verletzung des geringerwertigen geschützt werden kann, wo die geschichtliche Ausnahmesituation gegeben und als solche erkannt ist.

Um mit dem ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss zu sprechen: „Es war das Gespenstische, dass in dem Treueid auf Hitler die religiöse Formel ‚Bei Gott’ aufgenommen war.“ Hitler wollte damit, den moralischen Gehalt des Eides perfide ausnutzend, den Soldaten bis in die Tiefe seines Gewissens auch dort binden, wo er nicht mehr kontrolliert werden kann. Er, der Gewissenlose, der das höhnende Wort von den „lächerlichen Fesseln einer sogenannten Humanität“ gesprochen hatte, wollte den Gewissenhaften ganz in seine Gewalt bekommen, im Handeln wie in der Gesinnung. In Wirklichkeit aber hatte Hitler, um Heuss noch einmal zu zitieren, „eine zerbrechende Kraft einmontiert“, denn der Eid bei Gott findet seine Grenze gegenüber Menschen darin, dass die Verpflichtung vor Gott über die Verpflichtung vor Menschen geht.

Wenn wir nun also davon ausgehen, dass es grundsätzlich ein Widerstandsrecht gibt, sollen wir dann folgern, dass jeder Soldat - von ihm sprechen wir heute - ohne weiteres, blindlings und nach seinem bloßen Belieben dieses Recht praktisch verwirklichen, also Widerstand ausüben darf, nur wenn er glaubt, von einem Tyrannen geführt, von einem Unrechtssystem regiert zu werden? Diese Frage rührt an die unverrückbaren Grundlagen des Soldatentums, an das Gesetz von Befehl und Gehorsam, ohne welches eine Armee im Frieden nicht bestehen, im Kriege nicht kämpfen kann.

Hier wiederhole ich, dass das Recht zum Widerstand nur praktikabel wird in einer Ausnahmesituation, wie sie im „Dritten Reich“ entstanden war. Hier war durch das nationalsozialistische System von Jahr zu Jahr zunehmend der Staat zum Unrechtsstaat geworden, dessen Kennzeichen das Gesetz gewordene Unrecht, das Verbrechen, der verbrecherische Befehl und schließlich auch militärische Befehle wider die gute deutsche soldatische Tradition waren. Aber selbst auf einem solchen Hintergrund muss, so meine ich, die Verwirklichung des an sich gegebenen Widerstandsrechts, also die Ausübung des Widerstands in im Übrigen sehr verschiedenen und abgestuften Formen, von einigen Voraussetzungen abhängen.

Diese Auffassung finden Sie in den von mir erwähnten moraltheologischen Arbeiten, aber auch in einem grundlegenden Gutachten des ersten Präsidenten des Bundesgerichtshofs, Weinkauff. Ich darf einige Sätze hieraus zitieren:

„Wie überall sonst im Recht gilt bei der Ausübung des Widerstandsrechts zunächst der Grundsatz der Güterabwägung ... Weiter muß ich ... ein klares und sicheres Urteil darüber haben und mir zutrauen dürfen, daß und warum die Staatsführung so sehr gegen Recht und Pflicht verstößt, daß der gewaltsame Widerstand dagegen erforderlich und unerläßlich ist sowie ein Urteil darüber, in welchem Grade Widerstand notwendig ist ... Besonders gesteigert wird die Verantwortung, wenn sich der Widerstandsakt im Krieg vollzieht ... Ich darf weiter im allgemeinen Widerstand nur leisten, wenn ich einigermaßen die begründete Hoffnung haben darf, daß mein Widerstand die Sache zum Besseren wenden wird. Aliqu spes eventus wurde von der Widerstandslehre immer gefordert ... In äußerster Lage allerdings kann - auch bei geringer, unsicherer Hoffnung auf äußeren Erfolg - das bloße Aufrichten eines Fanals, eines weithin leuchtenden Zeichens dafür, daß sich überhaupt noch Kräfte ... gegen die Herrschaft des Bösen zu erheben wagen, den Widerstand rechtfertigen. Das kann Erfolg ... genug sein. Auch ein solcher Erfolg kann geschichtlich ins Weite wirken.“

Soweit Weinkauff. Das gleiche mein Künneth, wenn er als Voraussetzungen abgestufte Verantwortlichkeit, sachkundige Einsicht, Möglichkeit der Realisierung nennt.

Es gibt also nicht nur ein Widerstandsrecht sondern auch Kriterien für seine Ausübung. Die Abgrenzungen zu finden ebenso wie die Voraussetzungen zu prüfen kann immer und nur in der Gewissensentscheidung des Einzelnen und im Einzelfall geschehen. Man kann also zwar das Widerstandsrecht stipulieren, aber die Widerstandspflicht nur, indem man sie als Pflicht zur Gewissensentscheidung auffasst, aus der das jeweilige Handeln dann entspringt.

Was geht nun aus dem, was ich bisher versucht habe darzulegen, für den Soldaten hervor? Doch wohl das, dass für die große Masse der Soldaten im „Dritten Reich“ vom General bis zum Grenadier sich die Frage der Ausübung des Widerstands gar nicht stellen konnte, ja nicht durfte, schon im Frieden nicht, erst recht aber nicht im Kriege. Das heißt also, dass diejenigen Soldaten, die in gutem Glauben und in gutem Gewissen ihre Pflicht taten, deshalb keinerlei Vorwurf, keine noch so geringe Abwertung ihres sittlichen Verhaltens treffen darf. Das heißt weiter, dass der Soldat ohne die genannten Voraussetzungen Widerstand durch Aktion nicht ausüben darf.

Um ein mögliches Missverständnis auszuschalten: Nichteinverständnis mit einem dienstlichen oder taktischen Befehl gibt keine Berechtigung zum Ungehorsam oder zum Widerstand. Es kann jedoch durchaus Anlass zu einer in richtiger Form und den gegebenen Bestimmungen entsprechend abzugebenden Einwendung sein. Das Nichtbefolgen eines als solchen erkannten rechtswidrigen oder gar verbrecherischen Befehls ist ein vom Rechtsstaat gewährtes Recht, nicht aber Ausfluss des Widerstandsrechts. Die Nichtdurchführung eines sinnlos oder unvollziehbar gewordenen Befehls, der als solcher klar erkannt wird, ist gute deutsche soldatische Tradition, wobei jeder Einzelne die Verantwortung für sein Handeln und dessen Folgen zu tragen hat. Denken Sie dabei nicht nur an York sondern auch an Marwitz, an Seydlitz bei Roßbach oder an den Grafen Sponeck 1941 auf der Krim. Kaiser Wilhelm I., als er noch Prinz Wilhelm war, hat einmal einem General gesagt: „Seine Majestät hat Sie nicht deshalb zum Offizier gemacht, damit Sie einfach nur alle Befehle ausführen, sondern damit Sie auch wissen, wann Sie Befehle nicht ausführen müssen.“ Vom Feldmarschall Graf Moltke stammt das Wort: „Gehorsam ist ein Prinzip. Der Mann steht über dem Prinzip.“ Gehorsam und Nichtgehorsam schließen einander im tiefsten Kern nicht aus. Es sind die Situationen, in denen der eine oder das andere gilt, die einander ausschließen.

Wenn ich bisher ohne es besonders zu betonen vornehmlich von dem Soldaten gesprochen habe, der in der damaligen Situation stand, dem Soldaten in Hitlers Reich also, so ist zu sagen, dass dies alles auch für den Soldaten von heute und morgen gilt. Für diesen kommt aber noch eine Fragestellung hinzu, die verborgen in dem bisher Gesagten mitschwingt. Es ist die Frage, ob und inwieweit der 20. Juli eine Norm setzt oder setzen sollte und damit verbunden, ob und inwieweit die Männer des 20. Juli im engeren Sinne meines Themas die Soldaten unter ihnen, für den Soldaten Vorbilder sein können - so wie es andere Soldaten, auch solche des letzten Krieges, sind, die aus welchen Gründen auch immer nicht vor die Frage des Widerstands gestellt wurden.

Als Vorgang kann der 20. Juli sicher keine Norm setzen, ganz einfach deswegen, weil niemals ein Verhalten in einer Ausnahmesituation eine Norm setzen kann. Das außergewöhnliche Extrem kann nicht die Regel des täglichen Handelns sein. Wohl aber können und sollen die Soldaten des 20. Juli Vorbilder des Soldaten von heute sein, denn sie handelten aus ihrem Wissen nach ihrem Gewissen im Bewusstsein ihrer Verantwortung und setzten ihr Leben dafür ein. Welch bessere Vorbilder kann es geben? Die Bundeswehr hat diese Frage schon lange und ohne Einschränkung bejaht. Ich erinnere an die Worte des ersten Generalinspekteurs, General Heusinger: „Ihr Geist und ihre Haltung sind uns Vorbild!“ Ich erinnere an das, was General Foertsch als jetziger Generalinspekteur vor zwei Jahren und was der Bundesminister der Verteidigung, von Hassel, erst vor Kurzem gesagt haben.

Der 20. Juli bedeutet aber, wenn wir ihn richtig verstehen, noch mehr als die verpflichtende und vorbildliche Tat. Seine inneren Probleme sind zeitlos, sie bestehen auch für uns angesichts des Charakters der Epoche, in die wir hineingestellt sind, angesichts der totalitären Unterdrückung, in welcher der eine und der totalitären Bedrohung, unter welcher der andere Teil Deutschlands lebt. Hintergrund und Vordergrund in einem war damals und ist heute das totalitäre System an sich, welches uns alle bedroht, mit physischer Vergewaltigung wie mit der Vergewaltigung des Gewissens.

So wenig der 20. Juli als Modellfall für die Zukunft gelten kann, so sehr hat er eine wegweisende Bedeutung. Einer unserer großen Historiker, Professor Hans Rothfels aus Tübingen, sagte einmal: „Es sind damals in der Grenzsituation Möglichkeiten und Umwertungen vorgelebt und vorgestorben worden, die potenziell zum Wesen der Zeit gehören, in der wir existieren. Es sind das die Möglichkeiten und Umwertungen im Sinne einer internationalen Frontbildung des Menschlichen gegen das Unmenschliche.“

So verstanden haben die Worte von Theodor Heuss an alle Deutschen am Ende seiner Ansprache zum zehnjährigen Gedenktag des 20. Juli für den deutschen Soldaten eine grundlegende Bedeutung: „Das Vermächtnis ist noch in Wirksamkeit, die Verpflichtung noch nicht eingelöst.“






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20.07.1963
 Franz Thedieck
Franz Thedieck