Patrioten im Widerstand

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Franz Thedieck

Patrioten im Widerstand

Ansprache des Staatssekretärs im Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen Franz Thedieck am 20. Juli 1963 in der Bonner Beethovenhalle

Wenn wir uns heute und hier zu einer Feststunde am 20. Juli zusammenfinden, geht es uns zunächst um das ehrende Gedächtnis jener Männer und Frauen, die im Widerstand gegen Hitlers Gewaltherrschaft ihr Leben ließen. Wir ehren die deutschen und nichtdeutschen Opfer des nationalsozialistischen Terrors. Wir ehren vor allem jene Toten und auch die Lebenden, die den Mut und die Kraft hatten, dem nationalsozialistischen Regime die Stirn zu bieten und in das Rad der Geschichte einzugreifen, um – notfalls auch mit dem Tyrannenmord – dem unheilvollen Gang der Dinge Einhalt zu gebieten.

Unser Gedenken ist auch ein Danken. Dank an jene, die vor der Welt mit ihrer Tat und mit ihrem Tod von dem anderen Deutschland Zeugnis ablegten – von dem anderen Deutschland, das nicht mit dem Unrecht und dem Reich der niederen Dämonen identisch war. Dass sich das Kollektivurteil über Deutschland und die Deutschen auflöste und einem gerechteren Urteil Platz gewährte, ist dem Opfermut, der politischen Entschlossenheit und vor allem der lauteren Gesinnung der Männer und Frauen des deutschen Widerstands, ihnen voran die Teilnehmer am Attentat vom 20. Juli, zu verdanken.

Wir wissen, dass der deutsche Widerstand im Urteil der Welt zunächst recht zwiespältig bewertet wurde. Erst, als sich der Schleier der Tarnung verzog und auch die von den Nationalsozialisten geschaffene Legende von der „Clique der ehrgeizigen Verschwörer“ zusammenbrach, wandelte sich in der westlichen Welt auch das Bild vom deutschen Widerstand. Kein Geringerer als Churchill hat, zwei Jahre nach dem Juli-Attentat, vor dem britischen Unterhaus dem deutschen Widerstand ein zeitloses Denkmal gesetzt mit den Worten: „In Deutschland lebte eine Opposition, die durch ihre Opfer und entnervende internationale Politik immer schwächer wurde, aber zu dem Edelsten und Größten gehört, was in der politischen Geschichte aller Völker hervorgebracht wurde. Diese Männer kämpften ohne eine Hilfe von innen oder außen – einzig getrieben von der Unruhe ihres Gewissens. Solange sie lebten, waren sie für uns unsichtbar und unerkennbar, weil sie sich tarnen mussten. Aber an den Toten ist der Widerstand sichtbar geworden. Diese Toten vermögen nicht alles zu rechtfertigen, was in Deutschland geschah. Aber ihre Taten und Opfer sind das Fundament des neuen Aufbaues.“

Wo immer man des Opfertodes gedenkt, stellt sich die Frage nach dem Sinn des Opfers. Die Männer und Frauen des deutschen Widerstands starben in einer Zeit, in der Sterben von einer ganzen Nation abverlangt wurde – in einer Zeit, die von Massentod und Massenmord gekennzeichnet ist. Millionen starben auf den Schlachtfeldern Europas, gaben ihr Leben auf den Weltmeeren hin, verbrannten in den Bombennächten, fielen einem erbarmungslosen Terrorsystem zum Opfer.

Den Sinn dieses Sterbens von Soldaten, Zivilpersonen, Gefangenen und anderen Opfern zu ergründen, heißt in das Metaphysische vorzudringen und die Frage nach dem Sinn, des Werdens und Vergehens überhaupt zu stellen. Freilich, wir sehen in dem Sterben von Millionen auch nicht nur pure Sinnlosigkeit. Hat doch diese schwere Erfahrung alle daran beteiligten Völker geläutert, und sind doch in der europäischen Verständigung und Versöhnung schon Früchte einer tiefgreifenden und beständigen Geisteswandlung zu erblicken.

Das Sterben der Männer des deutschen Widerstands verschließt sich nicht der verbindlichen und täglich wiederholbaren Sinndeutung. Hier haben Beste und Edelste unserer Nation – Adel in des Wortes eigentlicher Bedeutung – bewusst Gefahr und Tod auf sich genommen. Ein starker sittlicher Impetus, tiefe religiöse Gläubigkeit – das waren bei den meisten, und aufrichtige selbstlose patriotische Empfindungen bei allen Männern und Frauen des Widerstands die wirklichen Antriebskräfte.

Ein beredtes Zeugnis ist der Abschiedsbrief des Grafen Peter Yorck von Wartenburg an seine Mutter: „Dich darf ich versichern, dass kein ehrgeiziger Gedanke, keine Lust nach Macht mein Handeln bestimmte. Es waren lediglich meine vaterländischen Gefühle, die Sorge um mein Deutschland, wie es in den letzten zwei Jahrtausenden gewachsen ist, das Bemühen um seine innere und äußere Entwicklung, die mein Handeln bestimmten. Deshalb stehe ich auch aufrecht vor meinen Vorfahren, dem Vater und den Brüdern. Vielleicht kommt doch einmal die Zeit, wo man eine andere Würdigung für unsere Haltung findet, wo man nicht als Lump, sondern als Mahnender und Patriot gewertet wird.“

Der Tod für das Vaterland ist aller Romantik bar. Fraglich ist uns des Horaz Gesang „Dulce et decorum est pro patria mori“ – süß ist der Tod auch für das Vaterland gewiss nicht. Und auch Hölderlin kann uns hier nicht leiten: „Umsonst zu sterben lieb ich nicht. Doch lieb ich zu fallen am Opferhügel fürs Vaterland.“ Und vollends bedenklich stimmt uns angesichts der Dimensionen des Opfers des Dichters Vers: „Dir ist, Liebes, nicht einer zu viel gefallen.“

Freilich, dieses Dichterwort ist in einer Zeit entstanden, in der auch nicht die kühnste dichterische Prophetie ausgereicht hätte, um sich die Perfektion der Zerstörung von Menschenleben auszumalen.

Wir zögern, selbst dem Wort Friedrich Schillers zu folgen: „Das Leben ist der Güter höchstes nicht.“ In unserer Zeit und in einer Welt, wo so gnadenlos über „Lebenswert“ und „Lebensunwert“ entschieden wurde, ist das Leben, das einzelne und kleine Menschenleben, der Güter höchstes doch. Um so höher ist jede Opferbereitschaft, jede männliche Gesinnung zu bewerten, die für ein Ideal, für ein erstrebenswertes Ziel das eigene Leben einzusetzen gewillt ist. Und hier ist uns Schiller wieder verbindlich: „Und setzet ihr nicht das Leben ein, nie wird euch das Leben gewonnen sein.“

Jedoch ist es mit dem ehrenden Gedächtnis und mit der Sinndeutung des Opfertodes nicht getan. Es stellt sich uns die Frage, was bedeutet uns der 20. Juli heute? Es sei mir erlaubt, hier eine etwas ausgreifende Betrachtung einzuflechten.

Den geschichtlich interessierten Betrachter überrascht gelegentlich die Relativität historischer Abstände. 15 Jahre liegt jetzt die Währungsreform zurück – sie ist Geschichte. Und ebenso viele Jahre sind seit dem Beginn der Blockade Berlins und der alliierten Luftbrücke vergangen – auch diese Ereignisse sind Geschichte und sind doch zugleich unmittelbare, fortwirkende und tagesbezogene Gegenwart. Vor 19 Jahren fassten die Armeen der westlichen Verbündeten an der französischen Westküste Fuß und überrannten den deutschen Atlantikwall – wir empfinden es als ein Stück Geschichte in der Kette der großen Weltgeschichte, abgeschlossen und von wirklich historischer Tragweite. Und zum gleichen Zeitpunkt, ebenfalls vor 19 Jahren, spielten sich die Ereignisse ab, die wir als den 20. Juli bezeichnen – ebenfalls Geschichte, abgeschlossen und unwiderruflich, aber doch wie kaum ein anderes Ereignis in unserer Gegenwart wirkend und sich dem Bewusstsein der Nation einprägend.

Hier wirkt noch ein Umstand mit, dass diese drei Daten aus unserer jüngsten Geschichte: der 20. Juli, der 17. Juni und der 13. August sich als Kalenderdaten fest dem Bewusstsein eingeprägt haben – Nationale Gedenktage besonderer Art.

An diesen Kalendertagen wird nicht Erhebendes gefeiert, jährt sich kein glorifizierbares Ereignis – kein Unabhängigkeitstag, kein Sturm auf die Bastille, kein Victory Day und auch kein Jahrestag der Oktoberrevolution, kein Kaiser-Geburtstag und auch nicht mehr – horrible dictu – ein „Tag der Machtergreifung“. Hier kehren vielmehr Jahr für Jahr die Daten wieder, die das Unerfüllte und Unerreichte im Ringen um Einheit und Freiheit widerspiegeln, die in uns Scham erwecken und uns zugleich Verpflichtung auferlegen: schuldbeladene Vergangenheit und tragische Gegenwart – wir müssen sie für eine glücklichere Zukunft bewältigen.

Wenn wir immer wieder erfahren, wie sehr in unserer Zeitgeschichte Vergangenheit und Gegenwart im zeitlichen Ablauf und in der Kausalität verklammert sind, liegt es nahe, den 20. Juli und den Volksaufstand vom 16./17. Juni zueinander in Beziehung zu setzen. Gemeinsam ist beiden Geschehnissen der Aufstand gegen die Macht, die Empörung der Menschenwürde und des Freiheitswillens gegen die Tyrannis. Beide Ereignisse haben dies gemeinsam: dass sie der Welt zeigten, dass das Schema vom Untertanengeist der Deutschen und von ihrer Anpassungsbereitschaft an die jeweiligen Machtverhältnisse nicht stimmt.

Freilich, es gibt auch Unterschiede grundsätzlicher Natur: Das Attentat gegen Hitler am 20. Juli 1944 war die letzte Konsequenz einer moralischen und politischen Opposition. Die daran beteiligten Männer waren verantwortungsbewusste und verantwortungsbereite Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens: Offiziere und hohe Beamte, Gewerkschaftsführer und Geistliche, demokratische Politiker und Publizisten, Konservative, Sozialisten und Liberale, einig in den Maximen freiheitlich-demokratischer und rechtsstaatlicher Gemeinschaftsordnung. Sie waren nach eingehenden Planungen und theoretischen Vorbereitungen zu ihrem Entschluss gekommen, durch einen Staatsstreich die Tyrannei in Deutschland zu beenden und die Grundlagen für eine neue staatliche und nationale Ordnung zu schaffen.

Anders der Volksaufstand vom 16. und 17. Juni 1953. Das Wort von der Spontaneität dieser Erhebung ist so oft wiederholt worden, dass man es vermeiden möchte. Nichts von Planungen, nichts von Vorbereitungen: 80 Bauarbeiter von der Stalinallee protestierten gegen die Arbeitsnormen, und ihre Demonstration weitete sich in Stunden zu einer wahren Volkserhebung aus. Hier hat es keine Führer gegeben, und die Männer, die der Augenblick an die Spitze der Erhebung gestellt hatte, traten später in die Anonymität der unendlich vielen, die dabei waren, zurück. Man denke an die Szene vor dem Haus der Ministerien am 16. Juni, als sich ein Namenloser zum Sprecher der Erhebung machte: „Kollegen, es geht hier nicht mehr um die Normen und um die Preise. Es geht hier um mehr. Das ist eine Volkserhebung. Wir wollen frei sein ... Wir fordern freie und geheime Wahlen.“

Mögen sich diese beiden für unsere jüngste Geschichte so zentral wichtigen Geschehnisse in der Form der Entstehung und des Ablaufs unterscheiden, sie gehörten thematisch zusammen, als Empörung des Freiheitswillens, als Aufstand gegen den inneren Feind im eigenen Volk.

Das sind auch die Triebkräfte des ungarischen Volksaufstands vom Oktober und November 1956 gewesen, dessen wir uns erinnern, wenn von der Kontinuität des Widerstandes gegen die Diktatur die Rede ist.

Es ist keine historische Konstruktion, sondern eine zutreffende Interpretation des zeitgeschichtlichen Sachverhalts, wenn man einen Bogen schlägt vom deutschen und ausländischen Widerstand gegen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft, über den 20. Juli 1944 und den Volksaufstand vom 17. Juni 1953 bis zu den Herbstereignissen in Polen und Ungarn im Jahre 1956. Es gibt eine Kontinuität des europäischen Widerstands gegen Diktatur und Unmenschlichkeit. Unser Gedenken an die freiheitlichen Regungen in unserem Volk schließt die Anteilnahme an den Freiheitsbewegungen anderer unterdrückter Völker mit ein.

Diese Ereignisse – der 20. Juli, der 17. Juni und der ungarische Freiheitskampf – sind ein ständiges Menetekel für uns, die Freiheit, in der wir leben, nicht als etwas Selbstverständliches hinzunehmen, sondern als eine sich täglich neu stellende Aufgabe.

Die Freiheit unseres staatlichen Neubeginns nach außen und innen zu behaupten und die Einheit und Freiheit für das ganze, ungeteilte Deutschland wieder zu gewinnen – das ist nicht nur die Lebensfrage unseres Volkes, sondern auch das Vermächtnis des 20. Juli.

Wir wissen, dass es nach dem totalen Zusammenbruch von 1945 ein schwerer Verlust für den staatlichen Neubeginn gewesen ist, dass die politischen Persönlichkeiten, deren Leben in dem dunklen Hinrichtungsraum von Plötzensee oder unter den Schüssen der SS-Kommandos endete, an dem Wiederaufbau nicht teilnehmen konnten. Um so mehr sollten wir uns der Gesinnung und dem Gewissen der Männer des 20. Juli verpflichtet wissen.

Aus dem zeitlichen Abstand ist es naheliegend und leicht, die Haltung und Entscheidung der Männer des 20. Juli als moralisch richtig und moralisch konsequent zu bewerten. Das Sittengesetz und die Verantwortung des Geistes hätten den Aufstand gegen die Gewaltherrschaft vorgeschrieben, Jedoch, bei dieser Betrachtungsweise darf man die deutsche Situation und die Situation des deutschen Widerstands im Besonderen nicht außer Betracht lassen. Die deutsche Kriegsführung war im Sommer 1944 in harter Bedrängnis, die Ostgrenze des Deutschen Reiches war von der Roten Armee fast erreicht, der Luftkrieg spielte sich seit Jahr und Tag auch über und auf deutschem Boden ab. Äußerste Konzentration der militärischen, politischen und wirtschaftlichen Mittel und Kräfte schien das Gebot der Stunde zu sein. So tat sich jedem Beteiligten, insbesondere den mit militärischer Verantwortung Belasteten, die schwere Frage auf, ob nicht die Verschwörung und der Staatsstreich den Interessen des in einen Vielfrontenkrieg verwickelten Vaterlandes in höchstem Maße abträglich sein müsste.

Die Teilnehmer des 20. Juli haben sich der Frage gestellt und haben sie verneint. Nicht die Fortsetzung des aussichtslosen Krieges konnte das Ziel der deutschen Politik sein. Es müsste vielmehr – wie es in dem für den Fall des Gelingens der Aktion vorgesehenen Aufruf an das deutsche Volk hieß – „der Hoffnungslosigkeit, dass dieser Krieg noch endlos weitergehen müsse, ein Ende gemacht“ werden.

Die am 20. Juli Beteiligten haben auch die Gefahr auf sich genommen, dass ihr Handeln zu einer neuen Dolchstoß-Legende entstellt wird. Wir haben es ja erlebt, dass radikale Kreise hier eine Ansatzmöglichkeit für nationalistische Agitation suchten. Die öffentliche Meinung hat ihnen eine deutliche Abfuhr gegeben, und es bedarf keiner weiteren Darlegung, dass der Kriegsverlauf zum Zeitpunkt des Attentats vom 20. Juli der deutschen Seite nicht mehr die geringste Chance bot, den Krieg noch zu gewinnen.

Unsere Zeit ist desillusioniert, ernüchtert und geläutert; sie verträgt keine Heldenverehrung. Doch sie braucht Leitbilder, sie kann auf Gestalten, die Vorbild und Beispiel sind, nicht verzichten. Es ist nicht nötig, dass sie mit ihrem Namen aus der Gemeinsamkeit der Gesinnung und der Tat heraustreten. Hier steht der Einzelne für das Ganze, und hinter der Gemeinschaft von Kampf und Sterben tritt der Einzelne namenlos zurück.

Wie könnte man für die Gesinnung und das Gewissen der Männer vom 20. Juli schönere Worte finden, als Albrecht Haushofer in den „Moabiter Sonetten“:

„Nicht einer, der des eignen Vorteils dachte, nicht einer, der gefühlter Pflichten bar, in Glanz und Macht, in tödlicher Gefahr, nicht um des Volkes Leben sorgend wachte.“

Mein verehrter verstorbener Freund Jakob Kaiser, mit dem ich in der Zeit des Widerstands so eng verbunden war, sagte im Jahre 1946 auf einer Kundgebung in Düsseldorf: „Wir haben mit unserem Leben gegen Hitler gestanden. Wir möchten mit unserem Leben für ein besseres Deutschland stehen.“ Die Rettung des Lebens kann für die überlebenden Männer und Frauen nur den Sinn haben, dieses Leben der ständigen inneren und äußeren Erneuerung unseres Volkes und unseres Staates zu widmen. Wenn wir uns alle nach besten Kräften bemühen, an der Schaffung einer Ordnung unseres öffentlichen Lebens mitzuwirken, die den hohen Idealen der Märtyrer des 20. Juli gerecht wird, dann ist ihr Leben und Sterben nicht umsonst gewesen.







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