Ein entschiedenes Bekenntnis zum Erbe des Widerstandes

Walter Momper

Ein entschiedenes Bekenntnis zum Erbe des Widerstandes

Ansprache des Regierenden Bürgermeisters von Berlin Walter Momper am 19. Juli 1989 im Otto-Braun-Saal der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Berlin

Mit Freude und Stolz übergibt Berlin heute die zentrale deutsche Ausstellung über den Widerstand gegen den Nationalsozialismus der Öffentlichkeit.

Indem wir auf diese Weise die Gedenkstätte Deutscher Widerstand vollenden, erfüllen wir eine nationale Aufgabe weit über Berlin, ja, über die Bundesrepublik Deutschland hinaus.

Die wissenschaftliche, die künstlerische, die organisatorische Anstrengung, die hinter diesen 5000 Exponaten in 26 Themenbereichen steht und die dem deutschen Widerstand in seiner ganzen Breite und Vielfalt gerecht zu werden sucht, ist ein entschiedenes Bekenntnis zum Erbe des Widerstands heute.

Dieses Erbe ist Teil unserer Geschichte, ebenso wie die schmerzlichen und beschämenden Ereignisse, an die uns kürzlich wieder der 50. Jahrestag der November-Pogrome von 1938 eindringlich erinnert hat.

Es hat sehr lange gedauert, bis die deutsche Gesellschaft nach dem Kriege sich mit ihrer Geschichte im Nationalsozialismus auseinander zu setzen begann. Den meisten fehlte der Mut, der furchtbaren Wahrheit von Auschwitz ins Gesicht zu sehen. Auch gegenüber dem Widerstand, dem Lichtpunkt in der Finsternis, waren viele Deutsche zwiespältig eingestellt. Bis in die sechziger Jahre hinein überwog nach Meinungsumfragen die Ablehnung – vielleicht wollte die Mehrheit sich nicht von der kleinen Minderheit der Widerstandskämpfer beschämen lassen. Die deutsche Haltung war geprägt von der Unfähigkeit zu trauern.

Fast 40 Jahre dauerte es, ehe eine konsensfähige Bewertung des Widerstandes gelingen konnte. Möglich wurde das erst, seitdem sich in unserer Gesellschaft eine wachsende Zahl von Menschen dazu entschlossen hat, die Vergangenheit nicht zu verleugnen, auch das furchtbarste Kapitel Auschwitz nicht. Diese Bereitschaft gibt uns das Recht und macht es uns zur Pflicht, uns auch mit Respekt an das „andere Deutschland“ jener Jahre zu erinnern und von ihm zu lernen.

Es gibt kaum eine Partei oder soziale Gruppe, die nicht auch Widerstandskämpfer und Widerstandsopfer in ihren Reihen gehabt hat. Die Kommunisten ausgenommen, waren in fast allen politischen und sozialen Gruppen die Mitläufer, die Verführten und die Opportunisten bei weitem in der Überzahl.

Wir sollten sehr nüchtern und bescheiden eingestehen, dass heute unter uns Nachgeborenen kaum ein größerer Prozentsatz als damals mutig und opferbereit genug wäre, um unter ähnlichen Umständen und Gefahren Widerstand zu leisten. Aber wenigstens die Lehren der Vergangenheit haben wir dazu gewonnen, und wir müssen sie nutzen, um solche Zwangslagen zu verhindern, die Widerstand unter Gefahr für Leib und Leben fordern. Geschichtliche Erkenntnis und die damit verbundene politische Einsicht müssen wir in jeder nachwachsenden Generation von neuem pflanzen und hegen. Erkenntnis und Einsicht sind das eine Ziel der Ausstellung „Widerstand gegen den Nationalsozialismus“ – das andere ist ein ehrendes Gedenken an die Christen und Sozialisten, die Arbeiter und Aristokraten, die Intellektuellen und die unbesungenen Helden, die ihr Leben und ihre Freiheit im Kampf gegen die Unmenschlichkeit einsetzen und opferten.

Die Ausstellung würdigt auch „Deserteure aus politischer Gegnerschaft“. Das hat einige verschreckt, so als riefe die Gedenkstätte damit die Wehrpflichtigen der Bundeswehr zur Fahnenflucht auf.

Das ist entschieden zu kurz gedacht. Wer die Tat des Grafen Stauffenberg würdigt, der ruft ja auch nicht die heutige Opposition dazu auf, sich des Regierungschefs mit Sprengstoff zu entledigen. Manche Traditionalisten müssen endlich lernen, dass Begriffe wie „Landesverrat“ und „Fahnenflucht“ unter der menschenfeindlichen Terrorherrschaft der Nazis ihren Sinn ändern, wenn entsprechende Handlungen politischen Widerstand zum Ziel haben. Die Ausstellung zeigt KZ-Häftlinge, die im Kriege in Wehrmachtsuniform gesteckt und in den „Bewährungsbataillonen“ zum Kampf für Hitler gezwungen werden sollten. Wenn diese Menschen desertierten und sich Partisanenverbänden anschlossen, so kann es keine Diskussion darüber geben, dass dies Widerstand war und nichts sonst. Und wer heute noch den Soldaten die Ehre abschneiden will, die um fünf nach zwölf die Waffe wegwarfen, damit nicht noch ein sinnlos verteidigtes Dorf zu Kleinholz gebombt wurde – wer diesen von den Schergen ermordeten Deserteuren die Ehre verweigern will, der glaubt wohl heute noch an den „Endsieg“.

Ich will in keiner Weise die Motive derjenigen in Frage stellen, die als Soldaten sich an den Eid gebunden fühlten und – wovon sie fest überzeugt waren – für das Vaterland kämpften. So bitter es für die sein mag, die bereit waren, ihre Gesundheit und ihr Leben als Soldat zu opfern, so bleibt es doch eine Tatsache, dass die Gaskammern in Auschwitz nur solange betrieben werden konnten, wie die Front hielt.

Eine Gedenkstätte soll nicht nur ein Ort sein, an dem man für tapfere Frauen und Männer Kränze niederlegt. Das geschieht auch und ist gut und richtig – aber es kommt vor allem darauf an, für die Zukunft zu lernen. Zu lernen auch aus den Fehlern des oft allzu späten deutschen Widerstandes und der ihn tragenden politischen und sozialen Gruppen. Die Menschen im deutschen Widerstand waren Menschen in Versuchungen und Wertkonflikten in einer Umwelt, in der der Machtrausch und die Verachtung der Demokratie den Ton angaben.

Auch im Widerstand waren manche, die vom Gift des antisemitischen und imperialistischen Zeitgeistes nicht frei waren, die zunächst nichts Böses darin sahen, Geisteskranke zu sterilisieren, Juden auszubürgern und osteuropäische Länder zu kolonisieren.

Wir haben es heute leicht, es besser zu wissen. Aber das gibt uns kein Recht zu Besserwisserei gegenüber den Menschen des Widerstandes. Vielmehr haben wir Respekt dafür, dass sie Irrtümer erkannt und unter Einsatz des eigenen Lebens korrigiert haben. Wären es unfehlbare Heroen gewesen, so könnten wir fehlbare Menschen nicht viel von ihnen lernen. So aber können wir es und sind dankbar, dass sie in der Zeit der Gewaltherrschaft die Hoffnung auf ein anderes Deutschland lebendig erhalten haben.

Lernen aus der Geschichte – das ist nicht einfach und eindeutig. Die Stimme der Geschichte ist leise, sie hämmert uns keine Parolen ein und bietet keine Patentrezepte. Vielmehr spricht sie durch Quellen – durch Dokumente und Zeitzeugen. Das ist der Grund, weshalb diese Ausstellung sich so ausführlich auf die Quellen einlässt und deshalb keinen geringen intellektuellen Anspruch stellt.

Die Stimme der Geschichte wird schwer verständlich, ja unhörbar, wenn sie übertönt wird vom Lärm heutiger Auseinandersetzungen. Wer glaubt, die Lehren aus dem Faschismus gezogen zu haben, indem er mit Dachlatten gegen rechtsextreme Parteiversammlungen antritt, der hat das Falsche gelernt. In Straßenkämpfen dieser Art ist der Rechtsextremismus der ideologische Gewinner, nicht die Demokratie. Denn das Freund-Feind-Schema kennzeichnet das Denkraster der Autoritären, und wer mit sogenannter antifaschistischer Gewalt die Rechten schlagen will, der stärkt dieses Denkraster und die Sehnsucht nach dem starken Mann.

Kürzlich haben die Gedenkstätte Deutscher Widerstand und die Weiße-Rose-Stiftung eine Arbeitstagung unter dem Titel „Jugend und Jugendopposition im Nationalsozialismus“ mit vielen jungen Menschen veranstaltet. Einige Schüler fragten, warum die Republikaner denn nicht einfach verboten würden. Eine Zeitzeugin aus dem Jugendwiderstand von damals antwortete, wir sollten alle zunächst einmal den „Republikaner in uns“ überwinden, nämlich den Teil von uns, der nach allzu einfachen Lösungen sucht.

Die Ausstellung „Deutscher Widerstand“ bietet keine einfachen Antworten. Sie lässt sich auf die Vielfalt und die Schwierigkeit ihres Gegenstandes ein. Dabei sind Aussagen unumgänglich, die kontrovers sind und auch zu Kontroversen geführt haben. Solche Kontroversen sind in einer pluralistischen Gesellschaft keine Panne, sondern legitim und notwendig. Vor allem zeigen sie, dass es hier um ein lebendiges geschichtliches Erbe von politischem Gewicht geht und nicht um erstarrte Gedenkrituale.

Wenn ich trotz dieser Kontroversen von einer konsensfähigen Darstellung des deutschen Widerstandes gesprochen habe, die hier in der Stauffenbergstrasse gelungen ist, so deshalb, weil heute die große Mehrheit der Deutschen in Ost und West sich einig ist im Respekt für Sozialisten und Konservative, Christen und Kommunisten, die ihr Leben gegen die Gewaltherrschaft gewagt haben. Vorbei ist die Geschichtsbetrachtung des Kalten Krieges, die in beiden Teilen Deutschlands nur diejenigen Widerstandsgruppen gelten ließ, die der eigenen politischen Richtung nahe standen.

Berlin nimmt die nötige geschichtliche Selbstbesinnung unseres Volkes ernst. Berlin war damals als Hauptstadt die Zentrale des nationalsozialistischen Terrors, Berlin war aber auch der Mittelpunkt des deutschen Widerstandes, und das entsprach dem Temperament der Berliner, die weltbürgerlich dachten, misstrauisch gegen Pathos und Propaganda waren und den Nazis nicht zur Mehrheit verhalfen, solange die Wahlen frei waren.

Auch nach dem Kriege blieb Berlin bis zum heutigen Tage Brennpunkt deutscher Geschichte, wo die Narben der Vergangenheit als auch die Zukunft sichtbarer wurde als anderswo. Deshalb ist die zentrale Widerstandsausstellung so wichtig, die wir heute eröffnen, deshalb bauen wir in der Wannsee-Villa eine Gedenkstätte für die jüdischen Opfer des Völkermordes auf und deshalb bereiten wir mit solchem Ernst in einer umfassenden gesellschaftlichen Diskussion die Entscheidung vor, wie das ehemalige Gestapogelände zu einem Ort des Lernens aus der Geschichte gestaltet werden kann.

Ich danke herzlich denen, die mit Engagement, wissenschaftlicher Kompetenz und viel Arbeit diese eindrucksvolle Ausstellung geschaffen haben. Ich danke meinen beiden Vorgängern im Amt, die diese Ausstellung auf den Weg gebracht und sie gegen Anfechtungen in Schutz genommen haben. Besonders herzlich danke ich dem wissenschaftlichen Leiter Peter Steinbach und dem künstlerischen Gestalter Hans Peter Hoch. Unser Dank gebührt dem Beirat, der den Aufbau der Ausstellung über Jahre mit gewissenhafter ehrenamtlicher Arbeit und viel Engagement begleitet hat. Wir danken aber auch Professor Steinbachs Mitarbeitern, der Arbeitsgruppe und der Bildredaktion. Sie alle haben eine ausgezeichnete Arbeit geleistet, von der am Anfang nicht abzusehen war, wie umfangreich und schwierig sie sein würde – an unzähligen Stellen war eigenständige Forschungsarbeit unabdingbar. Sie haben deshalb nicht nur die Darstellung, sondern auch die Erforschung des deutschen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus einen guten Schritt vorangebracht.

In der Regierungserklärung des Senats heißt es: „In dieser Zeit der aufkommenden rechtsextremistischen Gefahr ist die Aufklärung über die Ursachen und Folgen des Faschismus und die Besinnung auf die deutsche Geschichte notwendiger denn je“. Form und Inhalt dieser Ausstellung sind ein Beitrag zu diesem Ziel.







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