Eine tief empfundene Verantwortung für das Gemeinwesen

Christine Bergmann

Eine tief empfundene Verantwortung für das Gemeinwesen

Ansprache der Bürgermeisterin von Berlin Dr. Christine Bergmann am 20. Juli 1998 im Ehrenhof der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in der Stauffenbergstraße, Berlin

Sehr geehrte Damen und Herren

wir gedenken heute, am 54. Jahrestag des 20. Juli 1944, des Widerstandes gegen das nationalsozialistische Unrecht. Mutige Männer und Frauen haben ihr Leben geopfert, um anderen ein Überleben in Würde zu ermöglichen. Wir fühlen uns in dieser Stunde besonders verbunden mit den Familienangehörigen und Hinterbliebenen. Ich freue mich sehr, dass einige von ihnen auch heute wieder unter uns sein können.

Sie, verehrte Angehörige, haben am Leiden, an der Verzweiflung, aber auch den Hoffnungen auf ein Ende der Tyrannei und des Krieges teilgehabt. Sie haben den Frauen und Männern des Widerstandes den Halt und die Kraft gegeben, die sie brauchten, um der Erniedrigung durch die Schergen des NS-Regimes zu widerstehen. Aber Sie haben auch über den Tod dieser couragierten Menschen hinaus eine Verantwortung getragen.

„Dieser Vater“, bekannte Katharina Christiansen, die Tochter von Julius Leber, „Dieser Vater ging nie aus meinem Leben.“

Der 20. Juli 1944 war ein Aufstand des Gewissens. Die Verschwörer verweigerten den Gehorsam gegenüber einem Terrorregime, das Verbrechen gegen die Menschlichkeit verübte und Krieg und Zerstörung in weite Teile der Welt brachte. Die Männer und Frauen fanden für sich eine Möglichkeit des Handelns in einer Lage, in der kaum mehr jemand einen Ausweg sah. Emmi Bonhoeffer, die Witwe von Klaus Bonhoeffer, hat einmal gesagt: „Menschen handeln, wie sie handeln müssen aus innerer Notwendigkeit.“ Später fügte sie hinzu: „Was vom Widerstand bleibt, sind nicht die großen Entwürfe, nicht das Politische – schließlich ist der Widerstand gescheitert. Was bleibt, ist das Menschliche.” Ich füge hinzu: Das „Menschliche“ bleibt und der Geist dieser Erhebung lebt weiter – der Geist einer tief empfundenen Verantwortung für das Gemeinwesen.

54 Jahre nach dem 20. Juli 1944 verbindet sich für die meisten Deutschen mit dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus keine persönliche Erinnerung mehr. Umso notwendiger ist es, das Bewusstsein dafür wach zu halten, was Menschen anderen Menschen antun können und angetan haben.

Dabei darf es nicht beim Rückblick bleiben. Bundespräsident Herzog hat dies einmal so formuliert: „Wir wollen nicht unser Entsetzen konservieren. Wir wollen Lehren ziehen, die auch die künftigen Generationen als Orientierung verstehen.“ Dass diese Orientierung notwendig ist, zeigt die Zunahme der Bereitschaft, insbesondere unter Jugendlichen, rechtsextremes Gedankengut anzunehmen. Hier sind wir in der Pflicht, diese Entwicklung nicht hinzunehmen.

Im kommenden Jahr werden Parlament und Regierung der Bundesrepublik Deutschland von Bonn nach Berlin ziehen. Der Umzug wird von manchen als Anlass gesehen, nach den Grundpfeilern der künftigen „Berliner Republik“ zu fragen. Der Widerstand gegen Naziterror, Tyrannei und Unmenschlichkeit wird auch weiterhin nicht nur Grundlage des demokratischen Selbstverständnisses dieser Republik sein, sondern eine ihrer wichtigsten Kraftquellen. Ich sage dies als Bürgermeisterin einer Stadt, in der der Völkermord und der Krieg geplant und befohlen wurde. Ich sage dies aber auch als Vertreterin einer Stadt, die zugleich Zentrum des Widerstandes war.

Die Aufarbeitung des NS-Unrechts hat uns in den vergangenen Jahren auch am 20. Juli immer wieder bewegt. Denn in ihr zeigt sich die Ernsthaftigkeit der Erinnerung. Ich bin froh darüber, dass nach langen politischen Debatten endlich ein Gesetz zur Aufhebung der Unrechtsurteile aus der Zeit zwischen 1933 und 1945 beschlossen wurde. Der moralischen Rehabilitierung folgt nun endlich auch die rechtliche Rehabilitierung vieler Tausend Menschen, die bis heute an den Folgen dieses Unrechts leiden.

Der 20. Juli ist ein Tag, an dem wir uns vor all jenen verneigen, die den Mut hatten, sich in einem totalitären Überwachungsstaat zusammenzutun – sei es, um Widerstandsaktionen zu planen, sei es, um gemeinsam an politischen Konzepten für die Zeit nach einer möglichen Überwindung der NS-Herrschaft zu arbeiten. Hieran waren, wie wir wissen, Angehörige unterschiedlicher politischer und weltanschaulicher Herkunft beteiligt.

Alle am 20. Juli Beteiligten, alle anderen im Widerstand haben uns etwas Unersetzliches hinterlassen. Der Aufstand des Gewissens ließ Gewissen wieder entstehen. Wir danken den Männern und Frauen des 20. Juli ebenso wie den stillen Helden, wir danken ihren Familien, ihren Freunden und politischen Weggefährten. Wir denken an sie und wir denken an die vielen Menschen, die Opfer der Barbarei geworden sind. Wir werden sie nie vergessen.

Vielen Dank!






Weitere Reden

20.07.1998
Eduard Oswald