Entscheidungen des verantwortlichen Gewissens

Richard von Weizsäcker

Entscheidungen des verantwortlichen Gewissens

Ansprache des Bundespräsidenten Dr. Richard von Weizsäcker am 20. Juli 1984 im Schloss Bellevue, Berlin

Es ist das erste Mal, dass ich während meiner Amtszeit in meinem Berliner Wohnsitz, im Schloss Bellevue, Gäste begrüßen darf. Für mich hat es eine tiefe Bedeutung, dass dies am 20. Juli geschieht. Denn die Gedanken und Taten der Männer und Frauen, an die wir uns heute erinnern, und die ganze Zielrichtung des 20. Juli 1944 wurde die prägende Grundlage im Reifeprozess meiner Generation und meines eigenen Freundeskreises.

Zugleich wurde sie eine zentrale Thematik im Gespräch mit der nachfolgenden Generation. Dieser Austausch diente der Information, er war oft begleitet von Verständigungsschwierigkeiten, von Leidenschaften und Konflikten. Es war und bleibt ein ebenso schwieriges wie notwendiges Gespräch, damit wir Orientierung im heutigen Leben finden.

Lassen Sie mich am Abend dieses Tages der Erinnerung und des Ausblicks kurz drei Gedanken vortragen:

1.

Es ist gut und notwendig, dass wir den heutigen Tag miteinander in Berlin verbringen. Berlin war das Zentrum des Deutschen Reiches. Berlin war zwar nicht Geburtsort der nationalsozialistischen Herrschaft, wurde aber als Hauptstadt zwangsläufig ihr Machtmittelpunkt. Hier wurden Entscheidungen getroffen, die zu Leid und Unrecht, zu Krieg und Holocaust führten.

Die Berliner waren aber ihrer Natur und Tradition nach ein schlechter Nährboden für die nationalsozialistische Diktatur. Sie hatten schon früher immer wieder verfolgten Menschen Schutz geboten. Auch und gerade unter den unvorstellbar schwierigen Bedingungen des Dritten Reiches gab es hier immer wieder und bis zuletzt mutige und selbstlose Taten der Menschenhilfe, des Protestes gegen Unrecht und des Widerstandes. Die meisten Taten dieser Menschenliebe vollzogen sich in der Stille. Sie sind bis heute nicht öffentlich bekannt. Berlin hat für Krieg und Unrecht in besonderem Maße gelitten und bezahlt. Hier im Zentrum des geteilten Berlin erleben wir wie nirgends sonst die Folgen der nationalsozialistischen Diktatur bis auf den heutigen Tag.

Der besondere Status der Stadt, der dem Viermächteabkommen zugrunde liegt, kennzeichnet die Lage Berlins. Wir achten ihn und leben in seinem Rahmen. Dies heißt – bei Aufrechterhaltung und Entwicklung der Bindungen zwischen dem westlichen Berlin und der Bundesrepublik Deutschland – auch, dass Berlin nicht von der Bundesrepublik Deutschland regiert wird.

Die Bundesrepublik Deutschland wäre aber ihrerseits in einem geistig-politischen Sinne ohne Berlin unregierbar. Denn ohne Berlin wäre sie orientierungslos in Bezug auf Geschichte und Zukunft.

Die Geschichte ist kein bloßer Museumsgegenstand. Sie wirkt mit Macht in unsere Gegenwart hinein. Jeder kann es in Berlin täglich sehen und spüren im Leben der Menschen auf beiden Seiten der Mauer. Es liegt an uns, was wir aus dieser Geschichte und Gegenwart für die Zukunft machen. Nirgends ist ihr Zusammenhang so deutlich wie in Berlin. Ihre Gefahren zu erkennen, ihre Chancen zu nutzen ist unsere Verantwortung. Die Zukunft der Deutschen untereinander und im Verhältnis zu den anderen Völkern entscheidet sich primär an Berlin. Deshalb ist es gut, dass wir uns am heutigen Tage in Berlin versammeln und von hier aus an Vergangenheit und Zukunft denken

2.

Es gab, wie wir alle wissen, keine staatliche oder gesellschaftliche Institution, keinen Berufsstand und keine Schicht als ganzes, die den Widerstand gegen Hitler getragen hätte. Vielmehr waren es Gedanken und Entscheidungen einzelner Menschen, die sich zur Einsicht durchrangen, es müsse Widerstand geleistet werden durch Wort und Tat, und zwar gegen die erzwungene, widerwillige oder freiwillige Haltung ihrer eigenen Institution oder Schicht. Widerstand war ein Akt höchstpersönlicher Verantwortung.

Aus allen Landschaften und Schichten der Bevölkerung, aus unterschiedlicher, ja oft gegensätzlicher geistigen, sozialen und politischen Tradition kamen verantwortlich handelnde Menschen. Es hatte tiefe Gräben unter ihnen gegeben, aber sie hatten erkannt, wie unwichtig dies gegenüber ihren gemeinsamen und nun lebensgefährlich bedrohten Überzeugungen der Humanität geworden war.

Es waren Entscheidungen des verantwortlichen Gewissens. Das Gewissen ist persönlich, nicht kollektiv. Folglich gab es auch ganz unterschiedliche Gewissensentscheidungen. Sie reichten vom Attentat des 20. Juli bis zu dem stummen und immer nachdrücklicheren Protest des Arbeiters im Wedding, den uns Fallada in seinem Stück „Jeder stirbt für sich allein“ so eindrücklich vor Augen geführt hat.

Die Unterschiedlichkeit der Entscheidungen war verständlich und sachgemäß. Was dem Widerstand gemeinsam ist, war nicht die soziale Herkunft, die politische Überzeugung oder der Glaube, sondern die Kraft, sich dem Gewissen in seiner ganzen Last zu stellen, für den anderen einzutreten und das eigene Leben für die Folgen einzusetzen.

Wir leben heute in einer anderen Zeit. Die Herausforderungen, vor die sie uns stellt, sind weniger handgreiflich, sie sind oft komplex und unklar. Probleme und Lösungswege erscheinen im Vergleich zu damals verschwommen.

Aber die Anforderungen an ein verantwortliches Leben gelten heute wie damals. Die Menschen, derer wir heute gedenken, bieten uns dafür Maßstäbe. Es sind nicht historische Zusammenhänge oder politische Berechnung, die vom damaligen Widerstand fortwirken, sondern Wesen und Charakter, Worte und Taten der Personen, ihre Zielrichtung war auf die zentralen Fragen des Lebens bezogen, ihr Gewissen war ihr Antrieb.

Dies hat viele von ihnen zu einer geistigen Kraft im Leben geführt, hat sie befähigt, ihr Leben nach dem Wesentlichen zu orientieren, wie dies zu unserer Zeit selten anzutreffen ist. Gerade auch in diesem Sinne sprechen ihr Leben und ihre Liebe über den Tod hinaus zu uns.

3.

Aber das schließt die schon erwähnte und oft schwierige Auseinandersetzung der heutigen Menschen, zumal der jungen, mit der damaligen Zeit nicht aus. Junge Menschen sind geprägt von den Forderungen eines moralischen Rigorismus. Das war zu allen Zeilen das Privileg der Jugend. Wir Älteren sollten dagegen nicht Front machen. Verantwortliche ethische Grundsätze haben es schwer genug in der Welt. Wer soll für sie kämpfen, ohne sie gleich zu relativieren, ohne gleich an Bedenken, Relativierung und Kompromisse zu denken, wenn nicht die Jugend? Wir Älteren schulden der Jugend Offenheit und Rechenschaft. Dazu gehört es, ihr unsere Erfahrungen zu vermitteln und ihr eine Zeit nahe zu bringen, die sie sich überhaupt nicht vorstellen kann. Wir Älteren haben uns darum zu bemühen, dass sie zuhört; die Jungen haben zu beanspruchen, dass wir gemeinsam mit ihnen um die ethischen Maßstäbe des Gewissens ringen und uns an ihnen messen lassen, und zwar im Blick auf Geschichte, Gegenwart und Zukunft.

Wenn junge Menschen die Haltung vieler der Älteren in der Zeit des Nationalsozialismus als unbegreiflich und unannehmbar empfinden, dann ist das so, dann gilt es, nicht sich zu verhärten, wohl aber ihnen, den Jungen, zu wünschen und alles in unseren Kräften Stehende zu tun, dass sie nie in ihrem Leben in die Lage kommen mögen, in der die Älteren waren.

Der Gedanke an die Männer und Frauen des 20. Juli 1944 ist dafür eine entscheidende menschliche Hilfe.

Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen von Herzen, dass Sie gekommen sind. In erster Linie danke ich unseren ausländischen Gästen. Ich freue mich, dass Sie mit uns zusammen diesen Tag begehen, der nicht nur unter uns Deutschen, sondern gerade im Ausland so schwere Fragen aufgeworfen hat. Dass Sie gekommen sind, hilft uns an einem Punkt, von dem ich meine, dass seine Bewältigung auch für unsere Nachbarvölker und für das Ausland von Gewicht ist.

Ich danke aber auch allen, die aus Deutschland angereist sind, und ich danke den Berlinern, die unserer Einladung gefolgt sind. Ich muss mich nur dafür entschuldigen, dass das Hoch, das nach Odysseus benannt ist und das Tief, das den Namen Freya trägt, zu einer Wetterkonstellation geführt haben, die uns leider daran hindert, Ihnen den herrlichen Park zu öffnen. Ich hoffe, dass Sie trotzdem auch hier oben im Gespräch miteinander den Sinn dieses Tages weiter vertiefen werden. Herzlichen Dank!