Europäische Resistenz und deutscher Widerstand

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Pierre Grégoire

Europäische Resistenz und deutscher Widerstand

Rede des Luxemburger Parlamentspräsidenten Pierre Grégoire am 20. Juli 1970 in der Bonner Beethovenhalle

Nachdem am Ende einer wechselvollen Zeit zur Überwindung leidenschaftsbetonter Ausbrüche die europäische Elite der Resistenz ein Vierteljahrhundert lang und mehr die Taten ihrer Vergangenheit im Lichte der Vernunft überdacht, diskutiert, erhoben und geläutert hat, befinden sich die Außenstehenden, als Zaungäste eines Dauerschauspiels sozusagen, in jener seltsamen Pilatuslage, welche sie zur rhetorischen, halb im Unglauben und halb in der Ablehnung verschwebenden Frage zu berechtigen scheint: „Was ist denn schon ihr Widerstand?“

Gute Geschichtskenner, als gefährliche Apologeten untergründiger Weltkriegsepisoden, stehen heute auf und stehen nicht an, die Entwertung stolz getragener Auszeichnungen dadurch zu betreiben, dass sie die Durchschnittsverdienste des echten Resistenzlers durch das Mitdividieren jedes späteren Zu- und Nachläufertums erprobter Gruppen zu fixieren trachten. Illustrieren sie ihre Zweiflerhaltung etwa an der Tatsache, dass eine französische Maquisardenbewegung zur Zeit ihres Einsatzes 200, am Tage der Befreiung 2.000 und nach Kriegsende 15.000 eingeschriebene Mitglieder zählte, so darf ihnen leicht gelingen, an 14.800 Leuten oder, wenn sie wollen, an 98 Prozent jener Auch-Kämpfer ein Resistenzkonjunktur-Rittertum nachzuweisen, das der absoluten Bejahung des verborgenen Heldentums die absolute Verneinung seiner Ernsthaftigkeit entgegenzusetzen gestattet. Hier erprobt sich im Gebrauch des Wortes gleich sein Missbrauch. An dem nämlich, was des Ausdrucks Sinn noch immer zu decken gezwungen ist, entlarvt sich schließlich der Unsinn des Versuches, in der Abklärung des Milchcreme-Begriffes auch den Wasserabschaum miterfasst zu glauben.

Identische Verhaltensformeln übersetzen selten auch Gesinnungsgleichheiten. Was sich, zeitlich ebenso wie räumlich betrachtet, in den Randzonen der Widerstandskämpfe zutrug, war des Öfteren Feindeshilfe eher als Freundesunterstützung: eine Art Resistenzialismus gegenüber der wahren Resistenz. Zwischen dieser und jenem hat am besten wohl der französische Abbé Desgranges unterschieden, als er schrieb:

„Der Resistenzialismus verhält sich zur Resistenz wie der Klerikalismus zur Religion, der Liberalismus zur Freiheit und der von Sartre entdeckte Seinsekel zum Leben.“

Die Vielgestalt des echten Widerstandes mit seinem erstaunlichen Niveaugefälle von Land zu Land und seinen merkwürdigen Unterschieden, die aus politisch, militärisch, wirtschaftlich und sozial divergenten Situationen herrührten, mit seiner Hundertfältigkeit der Haltungen, der vom schlauen Betrug über den stillen Heroismus, die Tapferkeit in der Entsagung, das aktivierte Leid im Verlust der Heimat, die schmerzende Gegnerschaft zum anderen Teil des Volkes bis zur wissentlich übernommenen Gefährdung des eigenen Lebens weniger als der Sippensicherheit und zur äußersten, den Geist und das Gewissen folternden Entscheidung vor den Folgen von Bluttaten reichte, fordert vom Historiker, dass er die Marginalphänomene zwar nicht übersehe, dass er aber in der Darstellung des Wesentlichen nicht zu sehr dem Malum der Verallgemeinerung verfalle. Durch die einfache Summierung der französischen, der belgischen, der luxemburgischen, der holländischen, der dänischen, der norwegischen, der polnischen, der russischen, der rumänischen, der ungarischen, der tschechischen, der jugoslawischen, der griechischen und der italienischen Widerstandsgeschichten wird er vielleicht ein fesselndes Bild des resistierenden Europa erhalten; allein dieser qualdurchwirkten Imago wird der vollendende Zug so lange fehlen, wie nicht die Linien der deutschen Opposition, in ihrer Vielfältigkeit wie in ihrer Vielspältigkeit, werden mit einbezogen worden sein.

Nur stößt mich die Vorstellung eines blutbefleckten Antlitzes ab, das als „face souffrante de l’Europe résistante“ verherrlicht wird. Die tragikumwitterten Züge sollten die gerechte Spiegelung dessen sein, was die Gesamtgröße in der Gesamtschwäche einer jeden für die Wiederherstellung der Freiheit, der Gerechtigkeit und der Menschenwürde sich einsetzenden Persönlichkeit zu bestimmen vermöchte. Dann müsste freilich der hinterhertrottende Opportunismus vieler Banner-, Blätter- oder Flintenträger nicht weniger kurz als das katastrophengebärende Abenteurertum zahlreicher Zufallsagenten oder Beifallklatscher abgetan werden, da diese wie jenen im günstigsten Falle die Profanation des Unternehmens und im schlimmsten die Kriminalisierung patriotischer, politischer, humaner und geistiger Haltungen gelang. Dieses beiläufige Abtun schlösse alles ein, was sich auf den verschiedensten Aktionsebenen in einem Opfer fordernden Dilettantismus oder in einem organisatorischen Leichtsinn gefiel, der ganze Geheimnetze gleich öffentlichen Vereinen aufzurollen erlaubte.

Selbstverständlich drängte sich dann auch die Frage des manifesten Versagens jener Mächte auf, die in sämtlichen Ländern zur aktiven Resistenz berufen waren, es aber bei der passiven bewenden ließen. Ihre Betrachtung umfasste die Fehlspekulationen Deutschlands nicht weniger als die irrigen Reaktionen des Westens. Ja, sie käme am Problem der massiven Indifferenz ebenso wenig vorbei wie an jenem der offenbaren Feigheit. Denn auf sämtlichen Etagen der tyrannisierten Existenz, in welcher die Gehirne von einem Furor infiziert waren, der mit fertigen Denkformen und präfabrizierten Gefühlsattrappen die Intelligenz außer Funktion gesetzt zu haben schien, musste gezwungener Weise, wie bei uns in den Konzentrationslagern, der Gedanke an das Zahlenverhältnis der Geknechteten zu den Henkershelfern, etwa hundert zu eins, täglich neue Aufstandsvelleitäten und stündlich tiefer beschämende Erkenntnisse wecken. Versagte vor dem Stacheldraht die menschliche Natur genauso, wie sie außen vor den uniformierten Stützen des Regimes zu versagen schien?

In der Mehrheit gab es sonder Zweifel die Haltung des bequemen Einordnens, der Beunruhigung im Abwarten und der halben Zustimmung; allein es gab daneben, weniger auffällig, eine ins Risiko zielende und auf das Selbstopfer bezogene Bereitschaft, die auf der Flucht vor der Harmlosigkeit des normalbürgerlichen Daseins im steten Aug-in-Aug-mit-dem-Tode nie vergessen ließ, dass das Bonum commune wie alles Gute den Einsatz gegen das systematisierte Böse verlangte. Dieses geistige Standhalten, noch in seinen Minimalformen, dieses beständige Anklammern an den Grundsatz von der Gültigkeit höherer Allgemeinwerte war die erste, die leichteste Etappe auf dem Wege zur mutigen, die Gerechtigkeit bejahenden Einstellung. Dass ihr das Akt und Effekt erzeugende Element noch abging, war nicht die Folge eines Mangels an Entscheidungskraft oder an Charakterstärke, sondern die Konsequenz eines Diktats jener anderen Qualität, welche der Tapferkeit zugehörte, obschon sie ihren Taten vorausging: nämlich der Klugheit. Wer in Wissen und Gewissen das Unrecht im Staatsleben erfasst hatte, war wohl verpflichtet, dem Übel gegenüber sein „Non licet!“ auszusprechen, wollte er nicht teilhaben an den Untaten der Herrschenden; allein nicht immer war ihm auch gegeben, den gefährlichen Sprung aus der passiven Distanzierung vom Bösen in die aktive mit eigenen Mitteln zu wagen. Niemals durfte die auffordernde Stimme des Gewissens, von der das Grundelement der persönlichen Haltung ethisch untermauert wurde, die heimliche Mitsprache der Vernunft übertönen. Denn ihr allein blieb die Beantwortung der Frage vorbehalten, wer zur Resistenz legitimiert sei, in welchen Formen sie sich äußern dürfe und welche höchsten Ziele sie erstreben müsse.

So stand nicht einem jeden zu, die Weite des Unrechts zu erfassen; nicht alle konnten Einsicht haben in die komplizierten Voraussetzungen, von denen her das immer wieder angerufene Naturrecht die Folgen kämpferischer, Leben verletzender und Leben vernichtender Resistenz zu decken versprach. Von Kennern und von Könnern mussten Sicherungen gegeben werden, um jeden Missbrauch des Widerstandsrechtes zu verhindern. Keineswegs durfte der Wille zur Wiederherstellung des Rechtsstaates auf einem anderen Plane größeres Unrecht provozieren; vor den entsetzten Augen der Weltöffentlichkeit hat der einzige Fall des Grafen von Spreti die Gültigkeit dieser These schlagend bewiesen.

Wo jedoch die Einsichtigen, die zugleich auf führenden Posten standen, eine fortgesetzte Höchstanspannung des Gewissens sowohl die Perversion der naturrechtlichen Beziehungen von Mensch zu Mensch und von Volk zu Volk, die Systematisation des Unrechts durch eine forcierte Rechtfertigung des Bösen und den Primat der Rechtsmacht gegenüber dem Machtrecht wie auch das Prinzip der Notwehr in der Erhaltungsordnung mit sämtlichen Konsequenzen der Übertragung in die Tat begreifbar machte, mussten sich tragische Konflikte um so mehr ergeben, je weniger die Geführten imstande waren, aus Eigenem die Notwendigkeit befremdender Erstakte als Zwangsursachen späterer Erfolge zu verstehen. So deuteten sie vielfach als Vergehen, was unabweisbar einer ersehnten Restitutio in integrum der Freiheit vorauszugehen hatte. Eine Großherzogin von Luxemburg musste den Vorwurf ertragen, ihre in tiefster Not gefangenen Untertanen im Stich gelassen zu haben; ein Colonel de Gaulle wurde der Fahnenflucht bezichtigt, und ein General Oster stand unter der Anklage des Landesverrates. Beide Teile litten gleicherweise, wenn auch aus gegensätzlichen Motiven, unter der Kompaktheit von Handlungen, deren Tragweite erst nach vielen dramatischen Ereignissen ermessbar wurde, dann nämlich, als der Gesamtkomplex der Notwehrsituation den letzten Bürgern aufging, obschon den letzten Bürgern das Unmaß innerer Folterung, an der die ersten wahren Widerständler zugrunde zu gehen drohten, auch dann noch verborgen blieb. Sie hatten ja nicht, wie jene unter dem erdrückenden Gewissensbefehl gestanden, ihre Haltung des Jahres 1940 als Akt der Staatsnotwehr nach der Wahrscheinlichkeit der guten Auswirkung im Jahre 1944 festzulegen.

Für den deutschen Bürger, dem die ethische Entartung seiner Volksführung so klar geworden war, dass er der Sprache des ehrlichen Gewissens entsprechend, seine Gehorsamspflicht in ihr Gegenteil zu kehren unternahm, um auf diese Weise offen wie die Geschwister Scholl oder geheim wie die Kreisauer, der Auflehnung gegen Gott und seine Gebote mit einer Auflehnung gegen die Auflehner zu antworten, war die Furchtbarkeit der Lage um so zermürbender, je mehr der Unrechtsstaat sich des überkommenen Rechtes zu bedienen wusste, um den schlichtesten Widerstandsakt gleich als Hochverrat zu ahnden.

Wenn dennoch Tausende die Opposition bis zur Hingabe des eigenen Lebens zu treiben bereit waren, so bewiesen sie damit mehr als das Faktum, dass sie den Staatsnotstand in seiner ganzen Wucht erfasst hatten, - sie wussten in ihrer Mehrheit, dass sie damit den stillen Konsensus zum Aufstande gegen das Regime gegeben hatten. Die Tat des 20. Juli 1944 war nur die zu lang hinausgezögerte, mit allzu vielen Dämpfungsmitteln abgeschwächte Explosion einer aus genuinem Rechtsempfinden und aus dunklem, in der Nähe des Abgrundes entzündetem Schreckgespür komprimierten Gefühlsmasse. Der eine Stauffenberg, dem die Rolle zufiel, als Möros, den Dolch im Gewande, zu Dionys zu schleichen, um die Stadt vom Tyrannen zu befreien, handelte keineswegs im Alleinauftrage der Mitverschwörer, sondern unbezweifelbar als Pars pro toto. Als die Bombe ihr Feuer aufstrahlen ließ, wurde grell die wahre Wirklichkeit des Reiches beleuchtet. Die Außenwelt, für die der manifeste, der laute, der unüberhörbare Widerstand zu spät kam, erkannte es sofort und erkannte es unmissverständlich an. Allein die im Innern führende Minderheit verschloss die Augen und wollte weder sich noch den Mitverblendeten zugeben, dass sie alles Bessere gegen sich hatten und also verloren waren. Was sie feststellten war, dass ihrer Ehrlosigkeit noch die Krone fehlte. Sie fanden einen Freisler, der sie ihnen aufsetzte.

Und im gleichen Augenblick leitete die Geschichte eine Aktion ein, die den Opfern und deren Freunden jenen einfachen Lorbeer schenkte, in welchem sich die Ehre am schönsten und die Größe am schlichtesten gedeutet wissen. Mich wundert nur, dass die nächsten wie die fernsten Helfershelfer der Gefallenen immer noch in der moralischen Defensive zu stehen scheinen. Doch auch unausgesprochen ist und bleibt der 20. Juli ein Feiertag Ihrer Nation: so scheint mir, und ich finde es durchaus in der Ordnung aller erhabenen Dinge.






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