Politisches Mitdenken und politische Mitverantwortung

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Fritz Rudolf Schultz

Politisches Mitdenken und politische Mitverantwortung

Gedenkrede des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages Fritz Rudolf Schultz am 20. Juli 1970 in der Bonner Beethovenhalle

Meine sehr verehrten Damen und Herren!

Am 20. Juli 1944, heute vor 26 Jahren, brach der Aufstand des Gewissens gegen die nationalsozialistische Unrechtsherrschaft in Deutschland zusammen. Ziel der Erhebung war es, die bestehende Staatsführung zu beseitigen, den militärisch ohnehin verlorenen Krieg zu beenden und eine auf Freiheit und Recht angelegte Lebensordnung in Deutschland zu verwirklichen. Dieses Ziel konnte nicht erreicht werden, so dass wir Überlebenden den Kelch bis zur bitteren Neige auskosten mussten. An den Folgen der Herrschaft des Unrechts werden wir noch lange zu tragen haben.

Ich danke Ihnen, dass heute zum ersten Male der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages die Gelegenheit hat, im Rahmen dieser Feierstunde einige Gedanken vorzutragen, die der Würdigung des 20. Juli 1944 und seinem Vermächtnis für die Zukunft dienen sollen. Sie werden sich von der Sache her spezieller und enger im Rahmen des Militärischen halten müssen und nicht die verschiedenen Aspekte des Widerstandes beleuchten können, wie das meine beiden Vorredner in so hervorragender Weise getan haben. Nach der Vergewaltigung von Menschenrecht und Menschenwürde durch die Unrechtsherrschaft des Nationalsozialismus haben nicht umsonst die Väter des Grundgesetzes den Satz von der Unantastbarkeit der Menschenwürde an den Anfang unserer Verfassung gesetzt sowie Achtung und Schutz der Menschenwürde als Verpflichtung aller staatlichen Gewalt begründet. Dieser rechtlichen und moralischen Forderung im Bereich des Militärischen Geltung zu verschaffen, ist entscheidende Aufgabe auch des Wehrbeauftragten. An ihr hat er sich bei Bewältigung von Grenzsituationen zu orientieren.

Worum ging es den Männern des 20. Juli? Lassen Sie mich eine einfache Formel verwenden: Es ging ihnen darum, „in Deutschland und von Deutschland zu retten, was überhaupt noch zu retten war“. Dies schrieb Eugen Gerstenmaier in der Ausgabe vom 24. Juli 1964 der Zeitung „Die Zeit“. Wir wissen heute, dass der Krieg 1944 militärisch längst verloren war, viele von uns ahnten es sicher schon nach der Katastrophe von Stalingrad 1943. Es ging 1944 nur noch um die Steuerung der Niederlage, um die Verhinderung weiterer riesiger, sinnloser Blutverluste und Zerstörungen und die Beendigung der entsetzlichen Ausrottungsaktionen gegen unschuldige Menschen. Der 20. Juli 1944 galt „Deutschland, seiner Zukunft und seiner Ehre“, wie in dem genannten Artikel weiter zu lesen ist. Dieser Tat deutscher Patrioten haftet deshalb nicht das Odium des Verrats an.

Die Männer des 20. Juli waren keine „kleine Clique ehrgeiziger, gewissenloser und zugleich verbrecherisch-dummer Offiziere“, wie Hitler am 21. Juli 1944 im deutschen Rundfunk erklärte, sondern sie kamen aus allen Schichten des Volkes: Neben den Soldaten der Wehrmacht waren Politiker, Konservative, Liberale und Sozialisten, Wirtschaftsführer und Gewerkschafter, Beamte, Geistliche und Diplomaten, Angestellte und Arbeiter, Professoren und Studenten am Widerstand beteiligt. Dies ist ein Zeichen dafür, dass es den Nationalsozialisten nicht gelungen war, das ganze deutsche Volk sich auch innerlich gefügig zu machen und, wie man damals sagte, es „gleichzuschalten“. Den Offizieren kam deshalb eine vollziehende Funktion zu, weil sie allein über die machtmäßigen Voraussetzungen verfügten, das Regime zu beseitigen und den für unerlässlich erachteten Mord des Tyrannen durchzuführen. Drängende Impulse zur rettenden Tat gingen hierbei vor allem von Generaloberst Beck und Oberst Graf von Stauffenberg aus. Dieser Widerstand durch alle Stände und Schichten unseres Volkes verstand sich als die Repräsentanz des „Wahren Deutschland“, von dem im Entwurf einer Regierungserklärung der Widerstandskämpfer gesprochen wurde, das sich als erste Aufgabe nach einem erfolgreichen Attentat die „Wiederherstellung der vollkommenen Majestät des Rechts“ vorgenommen hatte.

Es ist auch irrig anzunehmen, der Widerstand, insbesondere das Attentat am 20. Juli 1944, sei eine Folge der sich abzeichnenden militärischen Niederlage. Widerstand gegen das Dritte Reich hat es von Anfang an gegeben. Er akzentuierte sich etwa in der Ablehnung des Ermächtigungsgesetzes durch die Reichstagsfraktion der SPD im März 1933, in dem Kampf des Generalstabschefs Beck gegen den von Hitler geplanten Krieg, in der kirchlichen Opposition, in der Arbeiterschaft und der studentischen Jugend. Hinzu kam, dass es in Deutschland spätestens seit 1938 weder an eingehenden Planungen noch an ernsten Versuchen zu einer gewaltsamen Beseitigung der Staatsführung fehlte. Die nationalsozialistische Herrschaft war jedoch - um noch einmal Eugen Gerstenmaier zu zitieren - „tatsächlich wie vom Teufel behütet“. Auch das steht in dem schon zitierten Artikel.

Wenn auch das Attentat des 20. Juli 1944 misslungen ist, so hat es doch ein Fanal des Gewissens aufgerichtet, und der Welt ein Zeichen des anderen Deutschland gesetzt. Von diesem moralischen Kredit des Widerstandes zehren wir heute hoch. Die Erklärung Churchills im britischen Unterhaus 1946 beleuchtet dies eindrucksvoll. Ich zitiere auszugsweise:

„Diese Toten vermögen nicht alles zu rechtfertigen, was in Deutschland geschah, aber ihre Taten und Opfer sind das Fundament eines neuen Aufbaues. Wir hoffen auf die Zeit, in der das heroische Kapitel der innerdeutschen Geschichte seine gerechte Würdigung finden wird.“

Die Bundeswehr hat sich von Anfang an zu der Erhebung des 20. Juli 1944 bekannt; sie sieht in ihr eine Tat gegen das Unrecht und gegen die Unfreiheit und einen Lichtpunkt in der dunkelsten Zeit Deutschlands. In Ehrfurcht steht sie vor dem Opfer dieser Männer, deren Gewissen durch ihr Wissen aufgerufen war. „Ihr Geist, ihre Haltung sind uns Vorbild“, so heißt es in einem Tagesbefehl des ersten Generalinspekteurs der Bundeswehr, des Generals Heusinger, zum 15. Jahrestag des 20. Juli 1944. Deshalb tragen auch zahlreiche Kasernen der Bundeswehr die Namen von Widerstandskämpfern, und zwar nicht nur die von Soldaten. Nicht umsonst ist auch in den vergangenen Jahren häufig die Bitte an hervorragende Soldaten der Bundeswehr ergangen, zu den Ereignissen des 20. Juli 1944 zu sprechen und den Konflikt im Gewissen der Widerstandskämpfer und seine Lösung zu verdeutlichen.

Die Generale Graf Kielmansegg, Graf Baudissin und de Maizière haben in den vergangenen Jahren an dieser Stelle über das Widerstandsrecht des Soldaten gegen den Unrechtsstaat, über Grenzen und Umfang eidlicher Verpflichtung und vor allem über die Auswirkungen des Widerstandes auf das Bild des Soldaten von heute gesprochen. Dabei wurde gemeinsam erkannt, dass der 20. Juli als Vorgang sicher keine Norm setzen kann, dass Ausnahmesituationen nicht die Regel des täglichen Handelns sein können. Mit dieser Erkenntnis wird die Bundeswehr zugleich jenen Soldaten gerecht, die in den Kriegsjahren ihre Pflicht an der Front bis zum Schluss erfüllten wie Generationen von deutschen Soldaten vor ihnen.

Die Anerkennung und das Verständnis für die Haltung jener Soldaten, die glaubten, in der Abwehr des äußeren Feindes und dem Schutz der Familie und Heimat dem soldatischen Gehorsam den Vorrang geben zu müssen, ist keine Schmälerung des Bekenntnisses der Bundeswehr zur Widerstandstat des 20. Juli 1944. Sie ist auch nicht Ausdruck taktischer Überlegungen, mit denen ein quasi Kompromiss zwischen den Soldaten und auch Mitbürgern, die der Tat des 20. Juli ablehnend gegenüberstehen und jenen, die dieses Handeln als Fanal des Gewissens empfinden, herbeigeführt werden soll. Sondern sie ergibt sich zwangsläufig aus der überlieferten Erkenntnis, dass zum aktiven Widerstand nicht jeder berechtigt und verpflichtet sein kann, sondern dass die Leistung von Widerstand elementar an die Voraussetzung effektiven Handelns gebunden ist.

Die Leistung von Widerstand hängt von einer verantwortlichen Position ab, von der aus zum Einen sich die Erkenntnis gewissen lässt, dass die Politik der Staatsführung in den Abgrund führt und zum Anderen die Möglichkeiten gegeben sind, dies durch die befreiende Tat des Widerstandes noch verhindern zu können. Der ehemalige Präsident des Bundesgerichtshofes, Hermann Weinkauff, hat in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam gemacht, dass Widerstand auch dann rechtmäßig sein kann, wenn die Hoffnung auf äußeren Erfolg gering ist, da das bloße Aufrichten eines Fanals als eines weithin leuchtenden Zeichens, dass sich noch die Kräfte des Guten, des Mutes und der Selbstaufopferung gegen die Herrschaft des Bösen zu erheben wagten, Erfolg genug sein könne, der geschichtlich ins Weite zu wirken vermag.

Nun hatten die Soldaten, die sich gegen die Staatsführung erhoben, auch einen Eid geschworen. Kann man ihnen Eidbruch vorwerfen? Ich meine, nein!

Da auch eine Staatsleitung als Eidnehmer unter der Treueverpflichtung zum Eidgeber steht, erlischt die verpflichtende Kraft des Eides dann, wenn die Grundlage dieses gegenseitigen Treueverhältnisses einseitig vom Eidnehmer verlassen wurde. Für die Männer des 20. Juli 1944 war dieser Sachverhalt gegeben. Ich darf dazu Hermann Weinkauff auszugsweise zitieren:

„Wenn sich daher der Träger der Staatsgewalt über diese strenge und unaufhebbare Grenze seiner Macht und Vollmacht frevelhaft hinwegsetzt, wenn er als einzelner aus eigenem angemaßten Recht den Angriffskrieg und den Eroberungskrieg vom Zaun bricht, wenn er frevelt und spielerhaft in der Haltung des Glücksritters den Weltkrieg herausfordert und entzündet, der auf die Dauer sein eigenes Volk vernichten muß ..., wenn er das eigene Volk bewußt in seinen persönlichen Untergang hineinzureißen strebt, wenn er es als Schlacke auf seinem eigenen infernalischen Scheiterhaufen verbrennen lassen will, dann wahrlich hat er jedes Recht auf Gehorsam und Unterordnung tausendfach verwirkt; dann tritt die eigene Verantwortung des Staatsvolkes für die geschändete Rechtsordnung unbezwingbar hervor, dann ist Widerstand erlaubt und gefordert, leidender und tätiger und wenn es sein muß, gewaltsamer Widerstand.“

Lassen Sie mich zum Abschluss, meine sehr verehrten Damen und Herren, der Frage nachgehen, welches Vermächtnis der Bundeswehr mit ihrem Bekenntnis zum 20. Juli auferlegt ist. Hierbei steht für mich in erster Linie der von den Reformern und der Wehrverfassung konzipierte und geschaffene Soldat als „Staatsbürger im Waffendienst“, der weiß, dass er zur Verteidigung einer auf Freiheit und Recht angelegten Lebensordnung in einem demokratischen Rechtsstaat berufen ist. Diese enge Verknüpfung zwischen der Verteidigungsbereitschaft und Wehrmotiven mit dem Erlebnis des täglichen Dienstes in der Kaserne war für mich der entscheidende Wurf unserer neuen Armee. Denn ein Soldat, der zur Verteidigung unserer freiheitlichen Ordnung berufen ist, muss diese Ordnung im militärischen Dienstbetrieb erleben können. Seine Rechte und seine Pflichten als Soldat und Staatsbürger müssen ihm bewusst sein; ein politisches und gesellschaftliches Engagement muss ihm auch als Soldat weitgehend möglich sein.

Dies alles ist nur in Streitkräften möglich, die sich gegenüber dem gesellschaftlichen Leben nicht abschließen, sondern sich auch den Fragen und Problemen ihrer Umwelt öffnen. Ich meine deshalb, dass die Integration der Bundeswehr in die staatliche und gesellschaftliche Ordnung eine der unverzichtbaren Grundlagen für die sachgerechte Erfüllung ihres Verteidigungsauftrages ist. Denn ohne eine enge Verflechtung der militärischen mit der zivilen Ordnung werden die Fragen nach dem Wofür und dem Weshalb des militärischen Dienstes schwer zu beantworten sein.

Der Auftrag unserer Streitkräfte, durch ständige Präsenz und Einsatzbereitschaft den Gegner davon abzuhalten, politische Ziele militärisch durchzusetzen, hat zur Folge, dass der Primat des Politischen vor dem Militärischen institutionell und im Bewusstsein der Beteiligten sichergestellt sein muss. Die Ausübung der militärischen Beratungsfunktion, die sich insbesondere auf Fragen unseres Verteidigungskonzepts und seiner Verwirklichung bezieht, qualifiziert sich nicht als Verstoß gegen den Primat des Politischen, sondern ist eine Folge spezialisierter Sachkunde, die wir nicht nur auf militärischem Gebiet in der politischen Führung unseres Volkes nötig haben.

Nicht umsonst gehören politisches Mitdenken und Mitverantwortung seit den preußischen Reformen zur guten Tradition deutschen Soldatentums, da der Soldat nur als politisch denkender und handelnder Staatsbürger zu den geistig und gesellschaftlich verantwortlich und bewegenden Kräften seiner Zeit gehören kann. In diesem Ansatz kommt die innige Verbindung zwischen Armee und Nation, zwischen Soldat und Bürger ebenso zum Ausdruck wie die Absage an ein reines Soldatentum, das meint, sich auf militärisch-fachlicher Handwerkerschaft beschränken zu können. Aus dieser Verantwortung für das Wohl des ganzen Volkes haben die Männer des 20. Juli ihre sittliche Kraft geschöpft, um den Versuch zu Deutschlands Rettung zu wagen. Die Bürger unseres Staats sollten darum wissen, welches Vermächtnis ihnen hiermit auferlegt ist.






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