Frauen und Männer, denen die Wahrheit und Güte nicht abhanden gekommen war

Karl Meyer

Frauen und Männer, denen die Wahrheit und Güte nicht abhanden gekommen war

Predigt von Pater Provinzial Dr. Karl Meyer am 20. Juli 1988 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Predigttext: XC 1J, 1-9. 18-23 (Evangelium vom Mittwoch der 16. Woche im Jahreskreis)

„Jesus setzte sich an das Ufer des Sees. Da versammelte sich eine große Menschenmenge um ihn; deshalb stieg er in ein Boot und setzte sich; die Menschen aber standen am Ufer. Und er sprach lange zu ihnen und erzählte ihnen Gleichnisse. Er sagte: Ein Sämann ging aufs Feld, um zu säen.

Als er säte, fiel ein Teil der Körner auf den Weg, und die Vögel kamen und fraßen sie.

Ein anderer Teil fiel auf felsigen Boden, wo es nur wenig Erde gab, und ging sofort auf, weil das Erdreich nicht tief genug war. Als aber die Sonne hochstieg, wurde die Saat versengt, und weil sie keine Wurzeln hatte, verdorrte sie. Wieder ein anderer Teil fiel in die Dornen, und die Dornen wuchsen und erstickten die Saat.

Ein anderer Teil schließlich fiel auf guten Boden und brachte Frucht, teils hundertfach, teils sechzigfach, teils dreißigfach. Wer Ohren hat, der höre!

Jesus sagte dann zu seinen Jüngern:

Hört nun, was das Gleichnis vom Sämann bedeutet.

Immer wenn ein Mensch das Wort vom Reich hört und es nicht versteht, kommt der Böse und nimmt alles weg was diesem Menschen ins Herz gesät wurde; bei ihm ist der Same auf den Weg gesät.

Auf felsigen Boden ist der Same bei dem gefallen, der das Wort hört und sofort freudig aufnimmt; doch es fasst in seinem Herzen nicht Wurzel; denn er ist unbeständig, und wenn er um des Wortes willen bedrängt oder verfolgt wird, kommt er sofort zu Fall.

In die Dornen ist der Same bei dem gesät, der das Wort zwar hört, aber dann ersticken es die Sorgen dieser Welt und die Gier nach Reichtum, und es bringt keine Frucht.

Auf guten Boden ist der Same bei dem gesät, der das Wort hört und es auch versteht; er bringt dann Frucht, hundertfach oder sechzigfach oder dreißigfach.“

Liebe Schwestern und Brüder in Christus! Verehrte Zuhörer!

I.

Es gibt zwei Arten von Worten:

1. Worte, Sätze, Aussagen, die begreifen, einordnen, unterscheiden. Sie sind gut und notwendig. Aber sie entarten leicht. Wie schnell werden sie zu Worten, die von Dingen und Menschen Besitz ergreifen oder sie verwerfen, sie ausschließen oder einschließen! Es gibt Worte, die mit Menschen fertig sind oder Menschen fertig machen. Wenn Worte Menschen einschließen, ausschließen, verwerfen, so schließen sie auch einen Teil der Seele dessen aus, der sie benutzt. Wenn Worte Wahrheit zudecken, so decken sie auch einen Teil der Seele dessen zu, der so redet. Viele Menschen leben mit diesen Folgen ihres Redens.

2. Der große Dominikaner-Mystiker Johannes Tauler (gest. 1361) hat einmal gesagt, dass ein Mensch wohl 30 dicke grässliche Häute wie Bärenhäute über seiner Seele haben könne, so dass er nicht in den Grund seiner Seele kommen kann. Es gibt Worte, die gegeben, angeboten, geschenkt werden: der Name, das Du, das Ja-Wort, die Zusage, die Verheißung, das Wort der Vergebung, das Wort des Trostes. Solche Worte haben ihre offene Wahrheit von dem her, der redet, und sie umgreifen zudem meine Wahrheit, der ich angesprochen bin, sie rufen Resonanz in meiner Seele hervor, sie rufen den Grund meiner Seele an, rufen mich über mich hinaus, führen mich tiefer in mein Geheimnis ein, rufen neues Leben hervor. Wer solche Worte erfahren hat, kann die Dinge und Ereignisse dieser Welt auf neue Weise ordnen, er kann die Geister unterscheiden.

Worte und Zeichen, die Menschen ausschließen und Wahrheit zudecken, können sich nicht nur über Einzelne legen, sondern auch über eine ganze Gesellschaft, über eine Nation; sie können die Seele einer Nation zudecken. Dann entsteht ein Raum, in dem Worte, die zu Herzen gehen, Worte der Wahrheit, kaum mehr gehört werden können.

Dieser böse Zustand scheint immer wieder über die Völker zu kommen. Dennoch ist und bleibt die Seele jedes Menschen der Ort der Wahrheit, und so ist sie letztlich frei gegenüber jedem Lügengespinst.

Niemand hat Zutritt zu ihr außer Gott. Er streut seinen Samen, das gute Wort, frei aus.

II.

Mehr als jeder andere Mensch war Jesus von Nazareth ein rechter Boden für das gute Wort, der Ort der Wahrheit.

Er hat Gott gern gesehen als den Sämann, der freigebig ausstreut, und hat sich ihm ganz geöffnet. „Alles ist mir von meinem Vater gegeben worden“, sagt er.

Auch sein eigenes Wirken im Namen Gottes sah er in diesem Gleichnis ausgesagt. Gott der Vater sprach durch ihn das Wort, das Leben schafft, das Heilung entstehen ließ aus dem Grund der Seele heraus, das die Wahrheit eines Menschen aufbrechen ließ.

Er sprach nicht nur gute Worte, er war den Menschen so zugetan, so für sie da, dass er selbst die Zusage Gottes an die Menschen war, das Wort Gottes. Bei vielen seiner Zuhörer rief er große Resonanz hervor, aber bei manchen tat sich auch wieder so gut wie nichts, oder es entstand nur eine oberflächliche oder kurzfristige Erregung. Bei nicht wenigen rief sein Wort Feindschaft hervor, weil er ihre fertigen und tödlichen Worte aufdeckte und angriff.

Bei aller wachsenden Ablehnung hielt er an dem guten Wort seines Vaters im Himmel fest, hielt er die Zusage Gottes für wichtiger als die Absage der Menschen. Da er die Zusage Gottes in sich trug, schwieg er vor Pilatus. Sie wollten ihn ausschalten und töten aber da bricht aus seiner Tiefe die Fülle des Lebens auf, die Gott schenken will. Neues Leben, Auferstehung wird kundgemacht.

III.

In Gottes Namen nimmt dieses letzte, unübertreffbar gute Wort Gottes nun seinen Lauf. „Überall und zu allen Zeiten der höchsten Not sind Menschen aufgestanden, Propheten, Heilige, die ihre Freiheit gewahrt hatten, die auf den einzigen Gott hingewiesen und mit seiner Hilfe das Volk zur Umkehr mahnten.“ So steht es in einem Flugblatt der „Weißen Rose“ vom Februar 1943.

Ja, das ist wahr. Immer wieder ist Jesu Zusage „Leben in Fülle für alle“ bei Menschen durch alle Schichten der Persönlichkeit bis in den Grund der Seele gefallen und hat sich dort entfaltet zu Hunger und Durst nach Gerechtigkeit, zu Sehnsucht nach Reinheit, nach Frieden, nach Barmherzigkeit.

Dadurch erwuchs ihnen Klarheit und ein unbestechliches Urteil und der Mut, gemäß der Wahrheit zu handeln.

Das gilt auch für die Zeit, die uns heute durch das Gedenken des 20. Juli 1944 vor Augen gestellt wird.

Das deutsche Volk war auf die Lügenworte der Nationalsozialisten hereingefallen, die Leben zu verheißen schienen, aber nicht Leben für alle, und taumelte tatsächlich „mit stolzer Trauer“ in den Tod und Untergang.

Und dennoch standen da Frauen und Männer, denen die Wahrheit und Güte nicht abhanden gekommen war.

Einige predigten das Wort Gottes unverfälscht, hielten fest, dass Gott der Herr ist, und riskierten dafür Verbannung, Gefängnis oder KZ.

Ein junger Sudetendeutscher ließ sich nicht zur SS pressen: „Wir wollen lieber sterben, als unser Gewissen mit solchen Gräueltaten beschweren“ und wurde hingerichtet.

Der Bauer Franz Jägerstetter leistete den Fahneneid auf Adolf Hitler nicht und bezahlte dafür mit seinem Leben.

Prof. Kurt Huber schrieb zusammen mit seinen jungen Freunden: „Im Namen der deutschen Jugend fordern wir von Adolf Hitler die persönliche Freiheit, das kostbarste Gut der Deutschen, zurück, um das er uns in allererbärmlichster Form betrogen hat. HJ, SS und SA haben uns in den fruchtbarsten Bildungsjahren unseres Lebens zu uniformieren, zu revolutionären, zu narkotisieren versucht. ‚Weltanschauliche Schulung’ hieß die verächtliche Methode, das aufkeimende Selbstdenken und Selbstwerten in einem Nebel leerer Phrasen zu ersticken.“

Sie alle kennen die einfachen großen Worte, die Ihre Angehörigen in den Vernehmungen und vor dem Volksgerichtshof zur Entlarvung der Lüge gesprochen haben, die ihnen von oben eingegeben waren.

„Scharf ist das Wort Gottes, schärfer als jedes zweischneidige Schwert“, sagt der Hebräerbrief.

Am Schluss stehen sie alle als Zeugen für die Zusage eines größeren Lebens, einer größeren Ehre und nehmen wortlos das Urteil eines ehrlosen Todes an. Gott hat sicher die Fülle des Lebens in ihnen aufgehen lassen.

IV.

Auch bei uns ist aus ihrem Zeugnis neues Leben, neue Ordnung entstanden. Der Sämann geht immer wieder aus und streut seinen Samen.

Es ist das Wort von Gott als dem Sinn des Lebens, vom Leben als Geschenk, von Recht und Gerechtigkeit für alle.

Auf welchen Boden fällt die Aussaat heute?

Kann das Wort der Wahrheit den Grund unserer Seele erreichen, oder liegt es nutzlos auf der Oberfläche?

Sind unsere Sinne vernebelt durch Parolen für alles mögliche, was unser Leben verschönern soll?

Ist unser Geist allergisch gegen die Wahrheit „Leben in Fülle für alle“, wehren wir uns heimlich oder öffentlich gegen die Wahrheit: „Leben ist ein unverfügbares Geschenk“, „Treue und Opfer sind Quellen des Lebens“?

Lassen Sie mich als Beispiel unseren Umgang mit den Kindern und Jugendlichen herausgreifen: Dulden wir es nicht auch, dass die Seelen unserer Kinder zugedeckt werden mit stereotypen Bildern der Medien, so dass die eigenen Bilder der Seele nicht mehr aufsteigen können, mit den zu stereotypen Weisen der Musikindustrie, so dass ihre eigene Weise nicht mehr zum Klingen kommt? Verstellen wir ihnen damit nicht den Weg zu ihrer eigenen Persönlichkeit? Nehmen wir ihnen die Sehnsucht nach dem Großen durch die Befriedigung tausend kleiner Wünsche? Wie viel Lebensersatz geben wir ihnen anstatt Leben? Was tun wir mit den „fruchtbarsten Bildungsjahren“, von denen die „Weiße Rose“ schrieb?

Fragen über Fragen an jeden Einzelnen und an die Gesellschaft, die wir mitformen oder dulden.

Jesus erneuert heute unter uns seine Zusage:

Ich bin gekommen, dass sie das Leben haben, und zwar in Fülle. Er steht dafür ein mit seinem Fleisch und Blut. Er möchte zu jedem Einzelnen von uns persönlich kommen.

Gebe Gott, dass er im Tiefsten unserer Seele willkommen ist, so dass neues Leben in uns und in unserem Volk entsteht.

Amen.







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