"Nicht nur die Tat, sondern auch das Leiden ist der Weg zur Freiheit."

Eberhard Bethge

„Nicht nur die Tat, sondern auch das Leiden ist der Weg zur Freiheit.“

Predigt von Prof. Dr. Eberhard Bethge DD am 20. Juli 1988 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Losung l. Kor. 3,20 (ff):

„Der Herr weiß der Menschen Gedanken, dass sie eitel sind. Darum rühme sich niemand eines Menschen. Es ist alles euer – es sei das Leben oder der Tod, es sei das Gegenwärtige oder das Zukünftige, – alles ist euer; ihr aber seid Christi, Christus aber ist Gottes.“

1.

Der Triumph dieser Losung: „alles ist euer – es sei das Leben oder der Tod“ trifft unser Ohr mitten in den Emotionen, denen sich an diesem Ort der Ausstoßung niemand von uns entziehen kann.

Seit nun mehr als drei Jahrzehnten beginnen wir das Gedenken an den 20. Juli 1944 mit dieser unvergleichbaren Feier, die Pater Odilo einst an dieser Stelle einführte und an der wir uns seitdem beteiligen. Sie kennen – wie ich – manch einen Freund oder Freundin, die es immer noch kaum fertig bringen, Messe und Abendmahl in diesem Schuppen zu begehen – und auch noch zu singen.

Umso mehr bedürfen wir der wiederholten Bestätigung und Versicherung dessen, dass genau jene Ausstoßung mit dem Tod an dieser Stelle Gott und dem Leben galt, gilt und gelten wird. Dass genau diese Schändung hier in Wahrheit die Wiederherstellung der Ehre der gequälten Kinder Gottes vollzog; und dass Hitlers Tötungsmaschinerie die Getöteten bereits hier stärker machte als ihn.

Wenn unsere gottesdienstliche Einfügung in die Communio des Auferstandenen irgendwohin gehört, dann sicher hierher. Eben hier ist es Jahr für Jahr zu bezeugen und weiterzugeben: „Der Herr weiß der Menschen Gedanken, dass sie eitel sind ... alles ist euer, es sei das Leben oder der Tod“.

Das grausam kärgliche Inventar dieser abseitigen Mauern spricht ihre herrische Sprache; ihr Schweigen steckt an. Umso eindringlicher spricht die andere Stimme: „alles ist euer“; nichts ist jener, die alles und alle vereinnahmen, die über menschliches Leben verfügen und Namen löschen. „Ihr aber seid Christi“, und nicht des Teufels. „Christus aber ist Gottes“, und nicht des Todes.

Der logische Skeptiker in mir lauscht den Gegenstimmen, und die führen das ganze Arsenal erneuter Beweise an für den Sieg des Bösen und für den Triumph des Todes, mit jeder neuen Tageszeitung. Aber mein Herz ruft zugleich begierig nach dem, der überzeugend zurückkehrt und heute früh bestätigt: Dieser Platz ist nicht Hitlers, sondern euer und erst recht derer, die gequält und ausgestoßen wurden und werden.

2.

Zur unumstößlichen Realität und zur Konkretheit dieses Triumphes der Kinder Gottes an diesem Platz kommt mir die Erinnerung, die genau zum 20. Juli 1944 gehört. Dietrich Bonhoeffer konnte uns ja in jenen Tagen noch geschmuggelte Briefe aus seiner Zelle zukommen lassen. So schrieb er unmittelbar nach dem gescheiterten Freischlag, als ihm also der Schandtod unmittelbar bevorzustehen schien, jenes Gedicht „Stationen auf dem Wege zur Freiheit“ mit vier Strophen – und jede Strophe ist eine der Stationen: „Zucht, Tat, Leiden, Tod“, so heißen ihre Überschriften.

Bei der vierten Strophe „Tod“ ist daran zu denken, dass es sich nicht um irgendeinen Tod handelt, sondern um diesen, den Beteiligten am 20. Juli 1944 bevorstehenden Galgentod, um diesen Tod der Ausstoßung, um diesen Tod ohne Grabstelle, um diese Toten, deren Namen gelöscht sein sollten; um diesen Tod des Scheiterns nach der ungeheuren Anstrengung, Tausenden von Opfern neuen Atem zu schaffen. Angesichts dieses Todes schreibt Bonhoeffer:

„Komm nun, höchstes Fest auf dem Weqe zur ewigen Freiheit, Tod, leg nieder beschwerliche Ketten und Mauern unsres vergänglichen Leibes und unsrer verblendeten Seele, daß wir endlich erblicken, was hier uns zu sehen mißgönnt ist. Freiheit, dich suchten wir lange in Zucht und in Tat und in Leiden. Sterbend erkennen wir nun im Angesicht Gottes dich selbst.“

Kürzlich entdeckte ich erst wieder, dass und wie dieser Gedanke noch tagelang Bonhoeffers Kopf und Herz bewegte. Dieser Gedanke, wie sich der Weg zur Freiheit mit den Mitteln der Konspiration nun fortsetze mit dem Weg zur Station ihrer „Vollendung“: „Sterbend erkennen wir nun im Angesicht Gottes dich selbst.“ So schrieb er mir am 28. Juli noch mal dazu:

„Nicht nur die Tat, sondern auch das Leiden ist der Weg zur Freiheit. Die Befreiung liegt im Leiden darin, dass man seine Sache (also die Sache dieser Konspiration und ihrer Absichten – füge ich heute hinzu) ganz aus den eigenen Händen geben und in die Hände Gottes legen darf. In diesem Sinne ist der Tod die Krönung der menschlichen Freiheit. Ob die menschliche Tat eine Sache des Glaubens ist oder nicht, entscheidet sich darin, ob der Mensch sein Leiden als die Fortsetzung seiner Tat, als eine Vollendung der Freiheit versteht oder nicht. Das finde ich sehr wichtig und sehr tröstlich.“ (WEN 407)

Erstaunlich, wie weit in diesem deutenden Absatz der den Gescheiterten zugedachte Tod bereits dem Willen Hitlers und seiner Rache entglitten war. Die Tötung war schon jetzt im hundertfachen Vollzug nicht mehr in seiner Verfügung. Dieser Tod war schon nicht mehr nur passiv erlitten, sondern aktiv als eigener ergriffen, Bonhoeffer hatte 1942 schon mal geschrieben:

„Unser Wunsch, der Tod möchte uns nicht zufällig, jäh, abseits vom Wesentlichen, sondern in der Fülle des Lebens und in der Ganzheit des Einsatzes treffen, wagen wir uns ... kaum mehr einzugestehen. Nicht die äußeren Umstände, sondern wir selbst werden es sein, die unseren Tod zu dem machen, was er sein kann, zum Tod in freiwilliger Einwilligung“. (WEN 26)

Für uns heute ist so nun tatsächlich dieser Tod der Gescheiterten zum machtvollen, sinnvollen Zeugnis des Sieges geworden, Sieg über den damaligen Schiedsrichter, aber auch über die Heutigen, über Leben und Sterben.

3.

Aber noch einmal: Wieso ist er das?

Bonhoeffer akzentuiert am Schluss des Briefabsatzes seine Aussage mit dem doppelten Zusatz: „Das finde ich sehr wichtig und sehr tröstlich“. Er sagt nicht nur „tröstlich“, das wäre die allgemeine religiöse Erinnerung an den Himmel. Er sagt davor noch „sehr wichtig“. Das reicht hinaus über ein individuelles Heil, die himmlische Freiheit für mich. Das reicht hinein in das korporative Schicksal dieser politisch gescheiterten Gruppe, dieser verantwortlichen Täter des 20. Juli. Dieses Ende im Schandtod ist ja der Ausgang „ihrer Sache“. Und diese Sache ist die Tat zur Befreiung von den Mördern. Und nicht nur das, sondern auch die endliche Befreiung von dem eigenen, ständig wachsenden Schuldigwerden an ihren Opfern. Deshalb spricht Bonhoeffer vom Leiden und von diesem Tod nun als von einer „Fortsetzung dieser Sache“, ja ihrer „Vollendung“.

Was aber vollendet sich durch den Schritt von der konspirativen Befreiungstat hinüber in die mit Scheitern und Sterben nun erwartete Befreiungserfahrung? Was bedeutet der Weg von der Wolfsschanze zu diesem Ort in Plötzensee? Was ist die neue Qualität dieser Krönung der Freiheit „im Angesicht Gottes selbst“?

Sie besteht darin, dass dieser Tod nach dem Scheitern etwas unwiderrufbar macht; nämlich dass diese Gescheiterten, jedenfalls in der letzten Summe, dem jahrelangen Sog in das Komplizentum mit dem Auschwitz-Verbrechen widerstanden haben. Tatsächlich hatten die Verschwörer ja lange, ohnmächtig, schweigend, kompromittierend, die Eskalation von der Entrechtung über die Pogrom-Nacht vor 50 Jahren bis hin zu Auschwitz mit ansehen, mittragen, mitverantworten müssen; und sie hatten die Qual der persönlichen Ambivalenzen während immer neu verzögerter Tatversuche durchstehen müssen. Dieser Tod aber zerriss die Fesselung an die Verbrechen. Er sprengte die „beschwerlichen Ketten“ und legte nieder die „beschwerlichen Mauern“, die den wirklichen Einsatz für die geschändeten Opfer hatten unsichtbar bleiben lassen müssen. Dieser Galgen beendete alle verzweifelte Selbstrechtfertigung. Er beendete ein für allemal Schwanken und Halbheiten. Er beendete für diese Gescheiterten jedes abermalige Verraten der Gemordeten von Auschwitz an ihre Mörder. Nun aber ist es öffentlich und gilt vor aller Augen: Hier sterben nicht mehr Agenten des Teufels, sondern Parteigänger des Vaters Jesu Christi und des Gottes der Juden und ihrer Geschändeten. Den Tod, den ihnen Hitler zugedacht hat, entwinden sie ihm und machen ihn zu ihrem eigenen, befreienden Fanal, zu einem Zeichen für uns, wer in Wahrheit das letzte Wort hat und wer nicht.

Deshalb sagt das Gedicht: „du berührtest selig die Freiheit“ – nun im Leiden; deshalb: du „legst nieder beschwerliche Ketten und Mauern“ – nun mit diesem Tod; deshalb: erkennst Du sterbend die Freiheit „nun im Angesicht Gottes dich selbst“. Und deshalb spricht der Brief eine Woche später von diesem Tod als der „Krönung der menschlichen Freiheit ... der Fortsetzung der Tat ... der Vollendung der Freiheit“. So teuer war die vorletzte Befreiungstat im Putsch am 20. Juli 1944, so kostbar ist die letzte Befreiungserfahrung in den Toden während der Wochen und Monate danach. Und so haben sie unserem Erbe am 20. Juli eine unauswechselbare und eine ungeminderte Autorität gegeben, die nicht so schnell zu historisieren oder zu zersetzen ist, auch wenn wir oft heftig um dieses Erbe heute streiten.

4.

So verstehen wir vielleicht, warum Bonhoeffer diesen Galgenweg zur Freiheit sowohl „sehr tröstlich“, als eben auch „sehr wichtig“ findet.

Und wir mögen diese Erinnerung an einen Betroffenen, dem noch Zeit gegönnt war, beinahe Unaussprechliches auszusprechen und zu hinterlassen, als eine sehr existentielle und konkrete Auslegung jenes Textteiles aus der heutigen Losung annehmen: „alles ist euer ... es sei das Leben oder der Tod“. Das zu wissen, ist in der Tat „sehr wichtig und sehr tröstlich“.

Sicherlich haben wir, die wir uns in diesem Raum zum Gottesdienst versammeln, unterschiedliche Erfahrungen und Vorstellungen, vorgegeben mit unterschiedlichen Betroffenheiten und Fakten im Blick auf die Unseren. Dennoch, wie immer jemand von ihnen subjektiv durch diese Hölle getrieben worden und seinen Weg gegangen ist, das Gesagte gilt objektiv ihnen allen und von ihnen allen: Das innerste Gesetz dieser Märtyrer verurteilte den Zerstörer ihres Lebens zur letzten Ohnmacht: „Der Herr weiß der Menschen Gedanken, dass sie eitel sind“. Aus ihrem Tod total ausgelieferter Passivität ist aktive totale Hingabe geworden, Würde und Segen wieder möglich geworden. Tödliche Isolierung hinter diesen alles schluckenden Mauern ist verwandelt in engagierende Öffentlichkeit. Und wir sind nicht die Ersten in dieser langen Geschichte, die dem Gott der Elenden einen Lobpreis singen, genau an dem Ort, wo er hatte verstummen sollen.

„Alles ist euer ... sei es das Leben oder der Tod“!

Und das ist in der Tat „sehr wichtig und sehr tröstlich“!







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