"Gedenket nur nicht, dass ich dem Tyrannen hierin gehorsam sein will; sondern ich will das Gesetz halten, das unseren Vätern durch Mose gegeben ist."

Eberhard Bethge

„Gedenket nur nicht, dass ich dem Tyrannen hierin gehorsam sein will; sondern ich will das Gesetz halten, das unseren Vätern durch Mose gegeben ist.“

Predigt von Prof. Dr. Eberhard Bethge DD am 20. Juli 1994 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

2. Mak.7, 30-40

30. Da die Mutter noch mit dem Sohn also redete, sprach der Jüngling: Worauf harret Ihr? Gedenket nur nicht, dass ich dem Tyrannen hierin gehorsam sein will; sondern ich will das Gesetz halten, das unseren Vätern durch Mose gegeben ist.

31. Du aber, der du den Juden alles Leid antust, sollst unserem Herrn Gott nicht entlaufen.

32. Wir leiden um unserer Sünden willen, das ist wahr.

33. Und obwohl der lebendige Gott eine Weile über uns zornig ist und uns straft und züchtigt, so wird er doch seinen Knechten wiederum gnädig werden.

34. Aber du gottloser, unreiner Mensch, überhebe dich deiner Gewalt nicht zu sehr und trotze nicht auf eitle Hoffnungen, dass du die Kinder Gottes verfolgst.

35. Denn Du bist dem Gericht des allmächtigen Gottes, der alle Dinge sieht, noch nicht entlaufen.

36. Meine Brüder, die eine kleine Zeit sich haben martern lassen, die warten jetzt des ewigen Lebens und der Verheißung Gottes. Du aber sollst nach dem Urteil Gottes gestraft werden, wie du mit deinem Hochmut verdient hast.

37. Ich will mein Leib und Leben um des Gesetzes meiner Väter willen hingeben wie meine Brüder und zu Gott schreien, dass er bald seinem Volk gnädig werde; du aber wirst noch selbst bekennen müssen, durch große Marter und Qual, dass er allein der rechte Gott sei.

38. Aber der Zorn Gottes wird sich an mir und meinen Brüdern wenden, welcher billig über unser ganzes Volk ergangen ist.

39. Da dies der König hörte, ward er toll und töricht und ließ ihn noch härter martern denn die anderen; denn es verdross ihn, dass sie sein noch dazu spotteten.

40. Also ist dieser auch rein dahingestorben und hat allen seinen Trost auf Gott gestellt.

Fast fünf Jahrzehnte feiern wir nun an dieser belasteten Stelle am 20. Juli den Gottesdienst als katholische und evangelische Angehörige der Getöteten des Widerstandes. Wir tun das in der je uns überlieferten Gestalt und wohnen geschwisterlich den Vollzügen des anderen in Ehrfurcht bei; teils traurig über unsere Trennung, teils gestärkt von der Geduld der jeweils anderen – heute zum ersten Mal in Gegenwart unserer beider Bischöfe!

Wir setzen damit betont fort, was Pater Odilo Braun, der heimgegangene Dominikanerpater, 1944/45 in den Zellen der Lehrter Straße 3 begonnen hatte, und wobei wir uns damals einander beistanden. Ich hatte ihm von der Weinflasche für seine Messe abgegeben, die ich als Kalfaktor beim Aufräumen der Zelle von Ernst von Harnack an seinem Hinrichtungstag gefunden hatte. Er versah mich mit Oblaten. Seinen Gläubigen übergab ich in einem Umschlag die geweihte Hostie, wenn ich Kaffee austeilte. Ich selbst schlüpfte bei günstiger Wächtersituation zu evangelischen Abendmahlfeiern etwa in die Zelle von Friedrich-Justus Perels, von Theodor Steltzer, von Hermann Lindemann u.a.

Sie verstehen, mit welch bewegter Freude ich heute noch einmal der Bitte entspreche, hier zu amtieren – aber kann es doch auch nur tun, indem ich intensiv und dankbar Odilos gedenke.

II. Was ist nach 50 Jahren zu sagen?

Von einer Behelfskanzel neben dieser unheimlichen Hinrichtungsstätte? Zu der zu kommen, um gerade hier gar zu singen und zu beten, manch einer der Unseren immer noch nicht fertig bringt. An der aus der Menge der damals auszulöschenden Namen immer wieder neue nach uns greifen. Mir selber ist z.B. im vergangenen Jahr erschütternd nahe gerückt das Mädchen aus der „Roten Kapelle“, Cato Bontjes van Beek aus Fischerhude, hier enthauptet im August 1943, vernichtet vom gleichen Ankläger, der auch in unseren Familien den Galgen vorsah.

Aber nicht das Grauen von Plötzensee hat meine Gedanken zum Gottesdienst zum fünfzigsten Jahrestag beherrscht, sondern vielmehr die stolze Gabe, die Plötzensee an uns bedeutet: Der Galgen von Plötzensee hat, wie noch viele andere Galgen auch, den Unseren die Integrität zurückgegeben! Nun stellt er unser kostbarstes Vermächtnis dar. Die Henker – und über ihnen die für den Mord an unseren Angehörigen Verantwortlichen hatten keine Ahnung – aber vielleicht hatten sie doch eine! – wie sie in Wahrheit mit ihrer Exekution die vielfach verletzte Integrität ihrer Opfer unzerstörbar wieder aufgerichtet haben, mitten in jener, sie und bis heute uns alle betreffende Schande in Deutschland und in unseren Kirchen. Deshalb muss uns dieser Gedenkgottesdienst zum Dankgottesdienst werden für eine unvergleichliche Gabe, die Gabe von Märtyrern, und er muss uns Anteil schaffen an ihrer Welt von Integrität.

Dies war doch der Vorgang: Nachdem unsere Angehörigen in quälend langer Konspiration jahrelang wie Komplizen der Mörder hatten existieren müssen, wurden sie jetzt mit dem Scheitern ihrer Aktion für das Humanum, für Geschändete, für ihr Recht öffentlich von der Seite des Teufels auf die Seite Gottes gerissen. Schon mit der Exekution wird der Vernichtete stärker als der Tyrann. Der Makkabäersohn der jüdischen Geschichte hat Recht: Auch der stärkste Tyrann holt sich an ihm seinen Untergang.

Freilich, wir Protestanten – vornehmlich – haben seit Jahrhunderten den Umgang mit Märtyrern verlernt. Die Reformation hatte noch festgelegt, dass der Heiligen und der Märtyrer wie der Apostel und der Propheten zu gedenken sei und ihnen dreierlei Ehren gebühre: 1.) dass Gott Dank zu sagen sei für diese Exempla der Gnade; 2.) dass man den Glauben stärken lasse an diesen Exempla und 3.) dass man ihren Exempla in Glauben, Leben und Geduld nachfolge.

Und noch im 17. Jahrhundert dichtete Johann Meyfart in seinem glühenden Choral „Jerusalem, du hochgebaute Stadt“ in der 5. Strophe: „Propheten hoch / auch Christen insgemein / die weiland dort / trugen des Kreuzes Joch / und der Tyrannen Pein / schau ich in Ehren schweben“. Aber alsbald herrschte das Defizit über die Märtyrer in unseren Predigten und Liedern, in unserem Lehr- und Vorstellungsgebäude; übrig blieben höchstens Goldgrundkarten für Kindergottesdienste.

Vor einem Jahrhundert schrieb dann aber ein Rostocker Professor, Michael Baumgarten – relegiert, weil er Aufstände für das Humanum höher schätzte als eine Staatskirche, die Bestehendes sanktioniert:

„Es gibt Zeiten, in denen Reden und Schriften nicht mehr ausreichen, um die notwendige Wahrheit verständlich zu machen. In solchen Zeiten müssen Taten und Leiden der Heiligen ein neues Alphabet schaffen, um das Geheimnis der Wahrheit neu zu enthüllen.“ (1891)

Ja, „ein neues Alphabet aus Taten und Leiden“! Plötzensee schuf neue Buchstaben. Unsere Gottesdienste befassen sich Jahr für Jahr mit einem Stück Entziffern.

Vierzig Jahre nach Baumgarten – im Juni 1932 – ging Bonhoeffer in einer Predigt in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche weiter. Er fügte etwas Ausschlaggebendes hinzu. Womit allein das neue Alphabet aus Tat und Leiden zur Integrität dieser Märtyrer führt: die Schuldverstrickung, von der er schon 1932 seherisch redet, ohne schon ihre reale Gestalt und ihre Schmerzen zu kennen:

„Dann müssen wir uns nicht wundern, wenn wieder Zeiten kommen werden, wo Märtyrerblut gefordert werden wird. Aber dieses Blut, wenn wir denn wirklich noch den Mut und die Treue haben, es zu vergießen, wird nicht so unschuldig und leuchtend sein wie jenes der ersten Zeugen. Auf unserem Blute läge große eigene Schuld des unnützen Knechtes, der hinausgeworfen wird in die Finsternis“ (19. 6. 1932, GS IV,71).

Unabtrennbar gehört ihre und unsere Schuldgeschichte in das neue Alphabet; individuell und korporativ und ist durch keine historische Parallelisierung vergessen zu machen.

Hier liegt auch der Punkt, an dem das Auschwitz-Martyrium der Juden ein anderes Buchstabieren verlangt als hier und heute morgen bei uns!

III. Nach welchen Maßen ehren wir nun hier unsere Märtyrer und lassen sie Exempla sein?

Beispiele, wie Paul Schneider bei uns oder wie bei Joseph Metzger bei den Katholiken, ehren wir ohne Anstöße in ihrem reinen Gottesgehorsam gleich dem der klassischen Makkabäersöhne vor dem Tyrannen Antiochus.

Aber wie überzeugen unsere Angehörigen aus der Konspiration, Vorbild im Namen Gottes zu sein? Dazu hilft neues Ernstnehmen alter klassischer Maße. Dazu muss sich Glaube verwickeln lassen in die Verstrickungen dieses Jahrhunderts der deutschen Geschichte und davon sprechen, um Glaube zu bleiben.

So machen den Märtyrer von Plötzensee vier Vorgegebenheiten aus:

1.) Das freie Ja zur Tat, deren Risiko Leiden und Marter sind.

2.) Die Ablehnung eines ersehnten oder pathologisch erwählten Martyriums.

Diese beiden Maße stammen aus früher christlicher Zeit und öffneten die Aufnahme von Namen in Liturgie und Unterricht.

3.) Dann aber das Maß von Schuldsolidarisierung und von Schuldübernahme. Damit zielen wir mitten in die Widerstandswirklichkeit unserer Familien.

4.) Das schwierige Maß einer Authentizität der Christlichkeit von Martyrium der Unseren: das „um Christi willen“.

zu 1.)

Zunächst: mit der freien Einwilligung in die tödliche Tat für das Humanum im Deutschland seiner jahrelangen Vernichtung wohnt dem Plötzenseer Tod ein Zeugnis für Leben inne. Es gibt Tode, die bezeugen nichts als den Tod: Auschwitz, Sarajewo, Kigali hinterlassen Schweigen und vernichtende Anklage. Aber es gibt auch Tode, die bezeugen Leben: die Scholl, Delp, Moltke, Cato Bontjes van Beek, sie senden noch in Trübsal und Schwäche Signale der Tröstung aus – bis zur Stunde. Verantwortung ist frei übernommen; Blutopfer zu glaubensschöpferischer Botschaft erhoben. Zur freien Einwilligung gehörte allerdings auch die quälende Frage: Muss denn gerade ich aus dem Rahmen des Üblichen hervortreten? Aber eben das freie Ja zur Tat mit ihrem Risiko verleiht ihrem Tod von Plötzensee den Martyriums-Zeugnischarakter.

zu 2.)

Die frühen Christen entschieden in einer Phase überhandnehmender Martyriumssehnsucht, dass das enthusiastische, selbst gewählte Martyrium ohne Verheißung ist. Ich finde, dass diese Unterscheidung gerade auch Elemente des Martyriums von Plötzensee verdeutlicht.

Wir bestreiten nicht, dass es zu allen Zeiten freudige Opfer für Ideen und Idole gegeben hat; nicht einmal, dass sogar für Hitler relativ reine Seelen in Maschinengewehre gerannt sind, um sich für den vermeintlichen Erfüller von Träumen zu opfern. Aber ihre Todesstunde begleiteten Befehl und Beifall des Idols. Sie besaßen die Zustimmung der Nation. Unsere Märtyrer hingegen liefen durch die Agonie allgemeiner Verwerfung. Öffentliche Schmach isolierte Leib und Seele.

Ohne Grab sollten sie gelöscht sein; verkannt, verstummt, mehrdeutig geendet, unendlich spät gescheitert. Opfergang nicht auf dem Markt, nicht im heroischen, öffentlichen Akt, sondern im Inkognito von Lagern und Kellern, auf dem Schandplatz wie Plötzensee.

zu 3.)

Das Faktum von Schuld, ihre Akzeptanz und die Solidarisierung mit ihr unterscheiden das Martyrium von Plötzensee am stärksten von den üblichen Märtyrerbildern. Die Versiegelung mit Galgen und Schafott wird erst unter diesem Aspekt zu dem, was es ist. Das Martyrium erwuchs aus der Schuld der Kirchen, welche die Treue zu den Menschen verloren und sich beschränken ließen auf ihren eigenen Sektor; und es erwuchs aus der Schuld von Politikern und Offizieren, die sich, ressortbeflissen, ihre Eigenverantwortung entwinden ließen – mit jenem Ereignis einer Deklassierung und Vernichtung ganzer Volksteile und der Verwüstung anderer Länder – so, dass sich eines Tages die Besten der Schuldgeschichte einer Verschwörung einzugliedern hatten. Das schuf den Märtyrer unserer Zeit: nicht mehr den heilig-reinen, sondern den schuldbedeckten Zeugen für das Humanum; den, der sich gerade nicht mehr fernhält von seiner gegenwärtigen Welt, sondern seine Integrität wiedergewinnt allein auf dem Weg der vollen Schuldübernahme zu dem Preis, den das inzwischen kostete.

zu 4.)

Erst an vierter Stelle nenne ich das Maß des „um Christi willen“. In Wahrheit gehört es an die erste! Die Solidarisierung Christi in seinem ganzen Umfang, d.h. wir durch ihn, wir in ihm und wir mit ihm; d.h. auch, so wie wir ihn nachher im Sakrament empfangen! Und dennoch versteht jeder, wenn ich hier zögere. Versteht jeder, dass auf der einen Seite das „um Christi willen“ so sehr das stärkste Maß und Merkmal für die Märtyrer ist, dass es eben auch zurücktreten kann, versteht andererseits jeder die tiefe Verfälschung, wenn es als dogmatisches Soll daherkommt; eingedenk, was wir anrichten, wenn eine christliche Aufmerksamkeit absorbiert ist von Nachprüfungszwängen, Ängsten um die Stimmigkeit der christlichen Identität, die uns dann eventuell auch noch verführt, Märtyrer unseres Kreises umzuinterpretieren.

Tatsächlich ist es an uns, beschämt zu entdecken, wie das Humanum Ziel und Wahrheit der christlichen Botschaft ist. Ob das „um Christi willen“ damals bekannt oder verborgen war – wir wissen außer etlichen Fällen großer letzter Bekenntnisse jedenfalls um die Identifikation unserer Angehörigen mit den damals um ihr Menschsein Gebrachten. Niemand aber trug sein Christsein vor sich her. Und das konnte auch gar nicht sein. Nicht nur, weil christliche Identität zutiefst kompromittiert worden war – und das war sie schon in einer langen Geschichte zuvor! – sondern weil Getanes seine Kraft verliert in dem Maße, in welchem es sich eilfertig selbst interpretiert. Selbstbestätigung schwächt nur die Botschaft von Märtyrern. Wo sie am stärksten ist, redet sie auch am zurückhaltendsten davon. Es genügt, wenn hier und da einer mittendrin gesprochen hat (Bonhoeffer, Ethik 130) von der Solidarisierung „mit den wehrlosesten und schwächsten Brüdern Christi“. Die Gabe christlicher Identität ist wohl zu hüten und nicht zu plakatieren. Auch mit diesem Gottesdienst messen wir keinesfalls diese Märtyrer; sie messen und prägen uns!

IV. Plötzensee – Siegel.

Unser jährlicher Weg zu diesem singulären Gottesdienst gehört zu solchen Prägevorgängen. Wir buchstabieren an dem Alphabet, das sie gesprochen haben. Seine Autorität ist endgültig. Sie fügen keine Änderung oder Widerruf hinzu. Die Kirche hob einst Märtyrer in den Rang der Apostel und Propheten, weil sie ihre Botschaft vom Humanum Christi nun nie wieder korrumpierten und ihr Dasein mit einer Eindeutigkeit beschlossen, die kein Lebender erreicht.

Wir können nun unsere Angehörigen von Plötzensee nicht mehr rückfragen. Sie bedürfen auch nicht unserer Stützen und Rechtfertigungen. Unser Nach-Buchstabieren und unsere Versuche, Plötzensee zu verstehen, finden ihr Ziel in der Macht der Beschämung, die mit dieser Versiegelung durch diese Stätte von ihnen ausgeht. Und diese Macht ist groß, schöpferisch und anhaltend. Größer als die von Synoden und von Amtsvollmachten. Und auch größer als die heute beherrschenden Vollmachten von Historikern, die an ihre Grenzen zu mahnen uns auch noch einmal gelingen muss, dass ihre Ergebnisse nicht an die Stelle der lebendigen und tödlichen Ereignisse selber treten. Nein, die Beschämung durch Plötzensee ist ein unvergleichliches Geschenk an uns, voll von unerschöpflichen Erneuerungsschätzen:

Seit dem 4. Jahrhundert singt die Kirche mit dem Te Deum:

„Dein göttlich Macht und Herrlichkeit

geht über Himmel und Erden weit.

Der heiligen zwölf Boten Zahl

und die lieben Propheten all,

die teuren Märtyrer all zumal

loben Dich, Herr, mit großem Schall.

Die ganze werte Christenheit

rühmt Dich auf Erden allezeit.

Dich, Gott Vater im höchsten Thron,

deinen rechten und eigenen Sohn,

den Heilgen Geist und Tröster wert

mit rechtem Dienst sie lobt und ehrt.

Auf Dich hoffen wir, lieber Herr,

in Schanden laß uns nimmermehr.“







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