Ihr Gewissen ließ ein Wegsehen nicht zu

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Harald Wolf

Ihr Gewissen ließ ein Wegsehen nicht zu

Ansprache des Berliner Bürgermeisters Harald Wolf am 19. Juli 2010 im Berliner Rathaus

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

im Namen des Regierenden Bürgermeisters Klaus Wowereit darf ich Sie alle sehr herzlich hier im Berliner Rathaus willkommen heißen.

Morgen begehen wir den 66. Jahrestag des 20. Juli 1944. Im Mittelpunkt steht das Gedenken an jene mutigen Frauen und Männer, die Widerstand leisteten gegen das menschenverachtende, diktatorische System des Nationalsozialismus. Und es ist längst zur guten Tradition geworden, Sie bereits am Vorabend zu einem kleinen Empfang zu uns ins Rathaus einzuladen. Diese Tradition liegt uns sehr am Herzen. Wir freuen uns deshalb sehr, dass Sie unserer Einladung auch in diesem Jahr wieder so zahlreich gefolgt sind. In diesem Sinne nochmals: Herzlich Willkommen.

Neben dem Gedenken an den deutschen Widerstand gibt uns dieser Empfang auch die Gelegenheit, Ihnen allen für Ihr großes Engagement gegen das Vergessen und für die vielen Impulse, die Sie unserem Land gegeben haben, zu danken.

Viele von Ihnen suchen immer wieder das Gespräch gerade auch mit jungen Leuten. Sie berichten von den Ereignissen rund um den 20. Juli 1944, sie erzählen von den Widerständlern um Claus Schenk Graf von Stauffenberg , von deren Motiven, Bedenken, oft auch deren Zerrissenheit. Ich halte das für sehr wichtig. Denn häufig vermitteln solche Begegnungen den Jugendlichen einen direkteren Zugang zur Geschichte, als etwa Bücher dies können.

Dafür möchte ich Ihnen an dieser Stelle im Namen des Senats von Berlin nochmals von Herzen Danke sagen. Ihr Engagement trägt viel dazu bei, bei der jungen Generation Verständnis für das Geschehene zu wecken und ihr vor Augen zu führen, dass es nichts Wertvolleres gibt als Demokratie, Freiheit und die Wahrung der Menschenrechte. Für manch einen jungen Menschen in unserem Land mag das heute allzu selbstverständlich geworden sein.

Denn, so hat es Heinz Galinski, der langjährige Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde zu Berlin, einmal sehr zutreffend formuliert:

„Demokratie kann man keiner Gesellschaft aufzwingen, sie ist auch kein Geschenk, das man ein für allemal in Besitz nehmen kann. Sie muss täglich erkämpft und verteidigt werden.“

Das gescheiterte Attentat vom 20. Juli 1944 liegt zwar bereits 66 Jahre zurück. Auch der Tag der deutschen Einheit jährt sich an diesem 3. Oktober nun schon zum 20. Mal. Gerade wir in Berlin sind unendlich dankbar dafür, dass wir heute in unserer wiedervereinigten Stadt in Frieden und Freiheit zusammenleben können. Dass diese Stadt wieder als positives Aushängeschild unseres Landes wahrgenommen wird, als weltoffene, liberale und tolerante Metropole, in der es sich zu leben lohnt. Und man kann ohne Zweifel sagen: Die Distanz dieses wiedervereinigten Deutschlands und seiner Hauptstadt zur braunen Diktatur könnte kaum größer sein.

Und doch müssen wir wachsam bleiben. Wir müssen weiterhin alles dafür tun, um unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung mit Leben zu erfüllen. Das schließt auch die Bereitschaft ein, Verantwortung für ein Gemeinwesen zu übernehmen, in dem die Würde des Menschen geachtet und geschützt wird.

Das ist auch das Vermächtnis der Männer und Frauen des 20. Juli. Denn sie haben große persönliche Verantwortung übernommen: Sie handelten in Verantwortung vor ihrem eigenen Gewissen. Sie konnten und wollten nicht mehr mit ansehen, wie Würde und Recht des Menschen mit Füßen getreten wurden. Unter Einsatz ihres Lebens haben sie ein Zeichen der Freiheit und Humanität gesetzt.

Deshalb war ihr Umsturzversuch nicht umsonst. So wie Widerstand gegen Diktatur und Unfreiheit niemals umsonst ist. Aus dem Beispiel Stauffenbergs und seiner Mitstreiter, aus ihrem Mut und ihrer moralischen Integrität können wir bis heute lernen.

Natürlich: Wir leben heute in einer komplett anderen Zeit. Den Männern und Frauen des 20. Juli waren schwere innere und äußere Prüfungen auferlegt. Ihr Widerstand war ein Widerstand auf jede Gefahr. Ihre Entscheidung ist nicht vergleichbar mit Entscheidungen, vor denen wir heute stehen. Jedoch zeigt uns ihr Weg, wie unerlässlich es ist, der Stimme seines Gewissens zu vertrauen und in schwierigen Situationen Zivilcourage aufzubringen. In diesem Sinne gelten die Anforderungen an ein verantwortungsbewusstes Leben heute wie damals. Und die Menschen, derer wir heute gedenken, bieten uns dafür die Maßstäbe.

Damit meine ich nicht allein die Männer und Frauen des 20. Juli, sondern die gesamte Bandbreite des Widerstandes: Die Studenten der „Weißen Rose“ ebenso wie den „Kreisauer Kreis“ oder den Attentäter Georg Elser. Widerstand leisteten Kommunisten, Sozialdemokraten, Gewerkschaftsvertreter, die Bekennende Kirche. Aber auch Menschen, die als sogenannte „Stille Helden“ Juden versteckt haben oder gegen den Abtransport von Bekannten protestierten.

Verglichen mit der Zahl derjenigen, die sich damals aus Überzeugung, Gehorsam oder Angst gefügt haben, stellten diese Menschen nur eine winzige Minderheit. Sie kamen aus unterschiedlichen Schichten, hatten unterschiedliche Überzeugungen und sie trafen auch ihre Gewissensentscheidung aus unterschiedlichen Motiven. Aber gemeinsam ist ihnen, dass ihr Gewissen ein Wegsehen nicht zuließ. Dass sie auch in Deutschlands dunkelster Stunde an Werten wie Mitmenschlichkeit, Anstand und Respekt vor der Menschenwürde festhielten. Und dass sie bereit waren, ihr eigenes Leben zu riskieren, um der nationalsozialistischen Diktatur etwas entgegenzusetzen. Das ist es, was bis heute zählt.

Sie kennen gewiss den berühmten Satz des französischen Politikers und Philosophen Jean Jaurés, wonach Tradition nicht bedeutet, die Asche zu verwahren, sondern, die Flamme am Brennen zu halten. In diesem Sinne lassen Sie uns weiterhin gemeinsam eintreten für eine Gesellschaft, in der Humanität und die Achtung vor der Würde des Menschen Richtschnur allen Handelns sind. Das ist das Erbe der Männer und Frauen des 20. Juli 1944. Und dieses Erbe wollen wir auch künftig lebendig halten und an die nachfolgenden Generationen weitergeben.

Ich danke Ihnen nochmals, dass Sie alle gekommen sind und wünsche Ihnen für heute Abend viele anregende Begegnungen und Gespräche.







Weitere Reden

19.07.2010
Prof. Dr. Robert von Steinau-Steinrück
Prof. Dr. Robert von Steinau-Steinrück