Im totalen Unrechtsstaat ein Zeichen für die Menschlichkeit setzen

Karl Meyer

Im totalen Unrechtsstaat ein Zeichen für die Menschlichkeit setzen

Predigt von Pater Provinzial Dr. Karl Meyer am 20. Juli 1987 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Predigttext: Mt. 16, 1-4 (12, 38-42. Lesung des Tages)

Da kamen die Pharisäer und Sadduzäer zu Jesus, um ihn auf die Probe zu stellen. Sie baten ihn: Lass uns ein Zeichen vom Himmel sehen. Er antwortete ihnen: Diese böse und treulose Generation fordert ein Zeichen, aber es wird ihr kein anderes gegeben werden als das Zeichen des Jona. Und er ließ sie stehen und ging weg.

Wir Menschen sind grundlegend dem Guten zugeneigt. Wir haben einen Sinn für das Gute. Alles Gute fasziniert uns. Gewöhnlich ist es das nahe, das vertraute Gute, das Gute, das meiner Wesensart verwandt ist, das ich akzeptiere. Ich ehre und schätze aber auch das ferne Gute, wenn es fern genug bleibt. Aber selbst das Nahe wird zum Fernen, wenn es mir zu nahe kommt, wenn es mich direkt betrifft.

Es kann sein, dass meine Liebe und Güte nur klein und begrenzt ist, dass sie sich nur im Gleichgewicht halten kann, wenn die Umwelt passt, wenn die Menschen, die mich brauchen und die mich festhalten würden, auf Abstand gehalten werden, oder wenn ich mir zugute halten kann, dass ich Menschen helfe, obwohl ich sie eigentlich mehr für mich brauche und verbrauche. – Wenn dann einer kommt und ist gütig auf eine Weise, die auch meine Weise sein könnte, aber mit einer Hingabe und Konsequenz, die mir völlig abgeht, wenn er dadurch den Mangel meiner Güte aufdeckt, dann wird er mir mit seiner Güte meistens fremd. Ich bin dann versucht, seine Schwächen aufzudecken, vielleicht sogar ihn so an seine Grenze zu bringen, dass auch er unmenschlich wird, damit die Herausforderung, die er für mich darstellt, sich auflöst.

Oder: Wenn jemand rechtlich denkt und tritt unentwegt und bedingungslos und ohne Ansehen der Person für das Recht ein, dann entlarvt er vor meinem Innern meine eigene Haltung zum Recht, der ich das Recht vielleicht nur soweit liebe, wie es mir dient, der ich vielleicht der Rechtlosigkeit nur soweit widerstehe, wie ich nicht in Gefahr gerate, möglicherweise nur in die kleine Gefahr, schief angesehen zu werden, oder auch einmal in die große Gefahr, verfolgt zu werden. Und wieder wird der andere mit seiner Rechtlichkeit mir fremd und verdächtig. Wenn mir das Gute und der Kern meiner Persönlichkeit, der ja der eigentliche Ort für das Gute ist, lieber sind als meine äußeren Persönlichkeitsschichten, dann werde ich für solch eine herausfordernde Begegnung dankbar sein, und in der Dankbarkeit werde ich durch die Güte des anderen umgestaltet. – Wenn mir aber meine Weise und mein Maß der Güte lieber sind als mein innerster Kern, dann werde ich mich gegen die Zumutung wehren und fordern, dass der andere sich dafür ausweist, dass er mich überhaupt so in Frage stellen darf.

Jesus kommt und ist einfach gut, immer, zu jedem und in aller Wahrhaftigkeit; einfach gut – zu gut selbst für die Guten, die sich um Gutheit und Gerechtigkeit wirklich abmühen. Schaut man genau hin, sieht man, dass sie aber doch ihre Weise als Rahmen und Maß für ihr Gutsein abgesteckt haben und darin letztlich eine Sicherheit für ihr Leben finden. Jesus sieht dagegen die Sicherheit seines Lebens in dem überall mächtigen Gott trotz seiner Überraschungen, er sieht die Quelle seines Lebens in dem an Güte überreichen Gott, und Er ist für ihn der Maßstab seines Handelns, das niemanden ausschließt.

Mit dem fundamentalen Sinn nun für das Gute, aber auch mit der elementaren Angst vor dem fremden Guten und der Sprengung des selbst gesetzten Rahmens fordern die Guten von Jesus Berechtigungszeichen für sein Handeln.

Jesus gibt das Zeichen nicht. Denn dieses Zeichen kann nicht gegeben werden. Es wäre nämlich unmenschlich, die Freiheit nicht zu respektieren, mit der jemand an das Gute im anderen glauben kann oder nicht. Auch seine Nähe zu Gott kann er nicht beweisen, schon gar nicht mit einschüchternden Machterweisen, denn was für ein Gott wäre das, der es nötig hätte, Menschen so auf seine Seite zu bringen. Jesus lässt daher seine Gegner stehen und geht weg.

Diese Szene ist ein Vorspiel zur Passion. Da wiederholt sich die Situation. Auch da finden wir die Faszination durch das Gute und Absicherung gegen das Gute. Da wird der Beweis der Menschlichkeit Jesu wieder gefordert, nur schärfer; die Frage nach der Vollmacht, nach der Zugehörigkeit zu Gott kleidet sich in wütenden Hohn: „Er hat auf Gott vertraut. Der soll ihn retten, wenn er denn Gefallen an ihm hat. Er steige vom Kreuz herab, dann wollen wir an ihn glauben.“ Er aber schweigt, nur ein Wort der Fürbitte und ein Wort des letzten Vertrauens kommt von seinen Lippen – und: ging er damals weg und ließ sie stehen, so bleibt er nun am Kreuz hängen und lässt sie gehen. Für die Göttlichkeit Jesu, für seine Sohnschaft gibt es in der Tat kein anderes Zeichen als das unerschütterliche Vertrauen auch im Sterben, denn der Tod ist nicht zu umgehen, er gehört zum ganzen Leben. Es stimmt schon: „Es wird kein anderes Zeichen gegeben werden als das Zeichen des Propheten Jona: Der Menschensohn wird drei Tage und drei Nächte im Innern der Erde sein.“ ( Mat. 12, 39 f.). Und genau darin glaubt er der Macht und dem Willen Gottes, Leben zu schenken.

Die Männer und Frauen, die Hitler Widerstand entgegengesetzt haben, hatten Menschlichkeit und Rechtlichkeit zu ihrem obersten Ziel erwählt. Diejenigen, die das Attentat am 20. Juli 1944 planten und durchführten, sahen diesen Weg als letzten Ausweg, und sie taten sich wegen ihres rechtlichen Denkens schwer damit. Mit der Tat wollten sie im totalen Unrechtsstaat auch ein Zeichen für ihre Menschlichkeit setzen. Es wurde ihnen aus der Hand geschlagen, – damit ein deutliches Zeichen für die Menschlichkeit entstehe. Denn was waren Freislers Hassausbrüche anders als der aus der Angst vor der Faszination des Guten genährte Versuch, Machtgier und Niedertracht als Beweggründe für das Attentat festzumachen. Damit scheiterte er. Die Angeklagten schwiegen oder sprachen einfach für die Wahrheit. Aller äußeren Würde entkleidet, wurden sie für ehrlos erklärt, – und was bedeutete das für einen preußischen Offizier oder Beamten! Viele erfuhren im Gefängnis ganz tief die Nähe des in der Schwachheit mächtigen Gottes, der sie heimsuchte bei Nacht. Wie Jesus blieben sie am Galgen hängen – im Glauben an ein neues Leben für sie und ein neues Leben für Deutschland. Sie blieben hängen und ließen die anderen gehen zu ihrem eigenen Leben.

Die anderen, d.h. auch uns, die Verwandten, die Söhne und Töchter, die Enkel von Widerstandskämpfern, oder die Söhne und Töchter und Enkel von Nazis, von Mitläufern, von heimlichen Gegnern und vorsichtigen Menschen. Sie haben uns gehen lassen, denn jede Generation ist neu. Vor jedem Einzelnen steht die Frage nach dem Guten, nach dem umfassenden Guten, nach dem fremden Guten, das meinen Rahmen sprengt, nach der überragenden Güte Gottes, die Einzug begehrt in diese Welt, vor allem in mein Herz.

Da stehen wir mit unserem täglichen Sicherheitsdenken, das Feindbilder nötig hat, die sich in unserem Gerede darstellen: ‚Man kann abends nicht mehr allein auf die Straße gehen’, heißt es.

Da treffen wir mit enormen Kosten Vorsorge für unsere bürgerliche Freiheit und Sicherheit, und gleichzeitig sterben täglich Tausende an Hunger. Auch wir Christen nehmen das in Kauf.

Da stehen wir mit unserer Güte: Sie hilft nur soweit, wie das hohe Niveau unseres Lebensstiles unangetastet bleibt.

Da reden wir von Menschenrechten und mögen doch die Lebenschancen nicht teilen.

Wir sind in dieser Lage beschenkt mit der Liebe Christi.

Heute hier in Plötzensee sind wir wieder beschenkt mit Zeugnissen der Rechtlichkeit, mit Zeugnissen der Menschlichkeit, mit Zeugnissen des Glaubens an Gott und an ein neues Leben, die aus der Liebe Christi erwuchsen. Mehr konnten uns die Zeugen aus der Hitlerzeit nicht geben.

Lassen wir uns herausfordern durch diese Zeugnisse oder gehen wir unbeeindruckt unseres Weges? Es ist jetzt unsere Zeit. Wenn man auch nicht in 43 Jahren auf unsere Tage und Entscheidungen blicken wird, dann wird sie der Tag Jesu Christi offenbar machen. Gott schenke uns deswegen sein Erbarmen!







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