Triumph der Achtung des menschlichen Lebens und der menschlichen Würde

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Klaus Wowereit

Triumph der Achtung des menschlichen Lebens und der menschlichen Würde

Ansprache des Regierenden Bürgermeisters von Berlin Klaus Wowereit am 20. Juli 2006 im Ehrenhof der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in der Stauffenbergstraße, Berlin

Sehr verehrte Damen und Herren,

heute jährt sich zum 62. Mal der Tag, an dem sich tapfere Männer und Frauen gegen Hitler erhoben. Fast ein Menschenleben liegt zwischen uns und der Erhebung gegen Hitler. Aber noch immer ist das Gedenken lebendig und das Vermächtnis des 20. Juli aktuell.

Es besteht inzwischen ein Konsens, dass die Verschwörer um Claus Graf Schenk von Stauffenberg das geistig-moralische Fundament unserer Republik legten: für Freiheit, Toleranz und Rechtsstaatlichkeit im Innern, für Frieden, Ausgleich und europäische Integration in der Beziehung zu unseren Nachbarn. Dass wir in dieser Weise das Vermächtnis des 20. Juli ehren, ist wichtig für unser historisches Selbstverständnis. Wir müssen wissen, auf welchen Schultern wir stehen und welch hohen Preis die Wegbereiter eines freiheitlich-demokratischen Deutschland gezahlt haben.

Wir dürfen nicht vergessen, welche schwere innere und äußere Prüfungen den Männern und Frauen des 20. Juli auferlegt waren. Daran zu erinnern heißt, das Gedenken des 20. Juli lebendig zu erhalten. Wir dürfen nicht vergessen, was es bedeutet, sich als Einzelner, allein mit seinem Gewissen, zum Widerstand gegen die barbarische Hitler-Diktatur zu entschließen.

„Widerstand“, das ist ein Wort, das in unserer offenen, demokratischen Gesellschaft deutlich an Schärfe verloren hat. Wer heute im umgangssprachlichen Sinn „Widerstand“ gegen dieses oder jenes leistet, der verlässt nicht automatisch unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung, der ist nicht allein mit sich und seinem Gewissen. Unsere offene, westliche Gesellschaft verträgt nicht nur den Widerstand in der Sache, sie braucht ihn auch als produktives Element im politischen Meinungsstreit.

Der Widerstand, den die Männer und Frauen des 20. Juli geleistet haben, ist etwas ganz anderes. Es war Widerstand auf jede Gefahr, ungeheuer radikal, der jedem Einzelnen nicht nur äußersten Mut, sondern auch die Bereitschaft zu einer qualvollen Gewissensprüfung abverlangte. Das galt vor allem für die zahlreichen Offiziere als größte und wichtigste Widerstandsgruppe des 20. Juli. Sie waren zu unbedingter Loyalität verpflichtet. Sie waren aber auch zu ethischem Denken und ethischem Handeln erzogen worden. Daraus erwuchs ein Konflikt zwischen auferlegter, absoluter Gehorsamspflicht und dem eigenen Gewissen, das immer vernehmlicher zu ihnen sprach.

Wenn wir heute in den Briefen und Aufzeichnungen der Männer und Frauen des 20. Juli lesen, dann ist dieser Abgrund stets spürbar, aber mehr noch eine enorme moralische Kraft, die am Ende alle Zweifel überwindet. „Es ist Zeit, dass jetzt etwas getan wird“, schrieb Stauffenberg damals. „Derjenige allerdings, der etwas zu tun wagt, muss sich bewusst sein, dass er wohl als Verräter in die deutsche Geschichte eingehen wird. Unterlässt er jedoch die Tat, dann wäre er ein Verräter vor seinem Gewissen. Ich könnte den Frauen und Kindern der Gefallenen nicht in die Augen sehen, wenn ich nicht alles täte, dieses sinnlose Menschenopfer zu verhindern."

Verräter vor der Geschichte oder Verräter vor dem Gewissen: Deutlicher kann man den inneren Zwiespalt nicht beschreiben. Am Ende triumphierte die Achtung des menschlichen Lebens und der menschlichen Würde. Dazu ist es nie zu spät. Und darüber hat auch die Geschichte inzwischen ein grundlegend anderes Urteil gesprochen als Stauffenberg damals befürchtete. Nein, es war kein Verrat vor der Geschichte, dass der Widerstand seinem Gewissen folgte.

Der Heldinnen und Helden des 20. Juli zu gedenken und ihres Vermächtnisses zu erinnern, bedeutet heute, uns selbst zu prüfen, ob wir ihren Maßstäben gerecht werden.

- Ob man auf die Stimme seines Gewissens hört und in schwierigen Situationen genug Courage aufbringt.

- Ob man sich zu den Grundsätzen unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung und Demokratie bekennt und danach handelt.

- Ob man jenen entschlossen entgegentritt, die das Rad der Geschichte zurückdrehen wollen und Jagd machen auf alle, die ihrer dumpfen Ideologie im Wege stehen.

Das sind Prüfungen, denen wir uns unterziehen müssen, wenn wir das Vermächtnis des 20. Juli einlösen wollen. Ich füge hinzu: Dass wir uns zu diesem Vermächtnis bekennen, ist eine Existenzfrage für unser freiheitlich-demokratisches Gemeinwesen.

Wir verneigen uns vor den aufrechten Männern und Frauen des Widerstandes.







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