An der Tat selbst können wir uns nicht trösten

Günther Harder
An der Tat selbst können wir uns nicht trösten
Ansprache von Prof. Dr. Günther Harder am 20. Juli 1954 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin


Ein Gefühl des Schauderns erweckt diese Umgebung bei uns, den Überlebenden des 20. Juli, als sei das Fallbeil gerade einige Zentimeter über unserem Nacken stehen geblieben. Wenn auch manche Wunden vernarbt sind, welch eine Traurigkeit muss Euch erfüllen, die Ihr denken müsst, wie die, die euch die Liebsten auf Erden waren, hier in einer großen Einsamkeit den Weg zur Richtstätte haben gehen müssen. Noch einmal bedenken wir, was damals Dietrich Bonhoeffer in seiner Zelle schrieb: „Es ist unendlich viel leichter, im Gehorsam gegen einen menschlichen Befehl zu leiden, als in der Freiheit eigentlichster, verantwortlicher Tat. Es ist unendlich viel leichter, in Gemeinschaft zu leiden als in Einsamkeit. Es ist unendlich viel leichter, öffentlich und in Ehren zu leiden als abseits und in Schanden.”

So wie die Dinge gelaufen sind, sind wir davor bewahrt, uns mit einem vorschnellen Trost abzufinden. Wir können uns nicht damit trösten, dass die gebrachten Opfer sich gelohnt haben, dass sie zum Erfolg geführt haben. Menschlich gesehen war alles vergebens und hat jenes Ereignis unser Volk um unendlich viel wertvolle Männer gebracht, die wir noch heute schmerzlich entbehren.

Aber auch, was der Mensch gern in solcher Lage tut, an der Tat selbst können wir uns nicht trösten. Sie ist zu verschlungen, um überhaupt einwandfrei erkannt zu werden. Sie enthält neben beispiellosem Mut und seltener Tapferkeit auch ein Teil Unentschlossenheit in sich. Im Volk war Bereitschaft vorhanden, aber es fehlte die Kraft, bis zum Volk durchzustoßen. Aber mehr noch: Es ist geradezu ein Geheimnis, das dies Ereignis umwittert. Wie war es eigentlich möglich, dass jener Mann aus der Sache nur leicht verletzt hervorging, während der, der den Anschlag verübte, felsenfest davon überzeugt war, dass er gelungen sei. Man kann an jenes Wort in Goethes Wahrheit und Dichtung erinnern, das ich mir damals angestrichen habe:

„Am furchtbarsten ... erscheint dieses Dämonische, wenn es in irgend einem Menschen überwiegend hervortritt ... Es sind nicht immer die vorzüglichsten Menschen, weder an Geist noch an Talenten, selten durch Herzensgüte sich empfehlend; aber eine ungeheure Kraft geht von ihnen aus, und sie üben eine unglaubliche Gewalt über alle Geschöpfe, ja sogar über die Elemente, und wer kann sagen, wieweit sich eine solche Wirkung erstrecken wird? Alle vereinten sittlichen Kräfte vermögen nichts gegen sie ... Und sie sind durch nichts zu überwinden, als durch das Universum selbst, mit dem sie den Kampf begonnen.”

Aber ist es nicht richtiger, die Frage zu erheben, ob wir denn überhaupt noch die Möglichkeit besaßen, durch eine solche Tat, wie sie geplant war, der Strafe zu entgehen, die auf uns alle, auf das ganze Volk wartete? Wenn wir heute trauernd der Opfer jenes Tages gedenken, wollen wir nicht vergessen, auch der Millionen von Opfern unter den Juden zu gedenken, die die fanatische Verblendung zu Tode hetzte, der entsetzlichen Qualen, die man über sie brachte, der grauenhaften Ängste, denen man sie überließ. Und war es nicht ein Verschulden des ganzen Volkes und auch derjenigen im Besonderen, die am ehesten die Macht besessen hätten, diesem Morden Einhalt zu gebieten, wenn sie sich rechtzeitig dazu entschlossen hätten? War also das Gelingen des Unternehmens des 20. Juli nicht von einer höheren Kommandostelle aus verboten?

Dies alles zu bedenken, kann uns nur sehr demütig und bescheiden machen, fern allem Leistungsstolz. Aber der Herr wohnt bei denen, die zerschlagen und demütigen Geistes sind, sagt die Heilige Schrift, und im 119. Psalm steht das Wort: „Wohl uns, wenn wir so sprechen können. Wohl uns, wenn wir uns auf die Gnade dessen geworfen wissen, der allein die Zukunft in seiner Hand hat. Er wird auch zu seiner Zeit, in dem nämlich, was er geschehen lässt, jene Opfer gesegnet sein lassen.“ Sich ihm ausgeliefert wissen, das heißt doch eigentlich nichts anderes, als frei sein von dem Zwang, in einer verkrampften Sinngebung heute schon selbst über die Dinge verfügen zu müssen, wie mancher unter denen, die damals gestorben sind, wie der Schreiber jener „letzten Briefe”. Aber nicht er allein ist in dieser großen Freiheit gestorben, dass er sich nicht um die Sinngebung seines Sterbens zu quälen brauchte, weil er sie in der Hand eines Höheren wusste. Wenn wir von Zelle zu Zelle gingen, den kargen Morgenimbiss zu verteilen, in wie mancher Zelle konnte man dann die Bibel auf dem winzigen Tischchen aufgeschlagen sehen und durfte wissen, dass, der hier hauste, schon an der wahren und besseren Wegzehrung für den neuen grauen Tag der Haft teilgenommen hatte.

Wenn wir in der Freiheit, die wir uns nur schenken lassen müssen und können, auf eigene Sinngebung verzichten, dann erst wird uns tröstliche Erkenntnis zuteil, Erkenntnis, deren lebendige Zeugen wir selbst in dieser Stunde sind. Dann wird uns nämlich jene Tat zu einem Geschenk an uns, an unser ganzes Volk, und wir können unser ganzes Volk nur bitten, auch von dieser Stätte aus nur bitten, dies Geschenk nicht auszuschlagen.

Denn – und das ist das Erste – es ist ein Geschenk, wenn im Leben eines Volkes dies Zeichen einer verantwortungsbewussten Tat und Entscheidung aufgerichtet wird, – ganz abgesehen davon, ob sie Erfolg hatte oder nicht. Die in ihr zutage tretende Haltung einer liebenden Besorgtheit um Volk und Vaterland, einer nüchternen Wachsamkeit, – mitten im Wahn des Fanatismus und der totalen Verblendung -, ist eben das, was einzig auch heute Not tut. Die Zeiten ändern sich, und der Wahn kann neue Formen, insbesondere auch der Angst, annehmen. Es ist die Tradition dieser Stadt, in deren Mauern wir feiern, dass die Bürger durch einen illusionslosen, nüchternen Sinn ausgezeichnet sind, und vielleicht ist kein Ort – ganz abgesehen von der Tatsache, dass sich hier in der Bendlerstraße der Widerstand konzentrierte – darum so für eine Feier und für ein Gedenken geeignet wie dieser. Zum Geschehen seines Volkes zu stehen in der Mitte zwischen einem desinteressierten, verantwortungslosen „ohne mich” und einer überinteressierten, fanatischen Hingabe, furchtlos gegenüber dem Massenrausch der Verblendeten, das ist eine Haltung, die uns in jener Tat zum Vorbild geworden ist.

Und das andere sollte ebenso wenig vergessen werden, das uns als Geschenk und Vermächtnis geblieben ist, der entschlossene Wille, allem Terror und aller Lüge zu widerstehen, und den gemeinsamen Bau des Staates nicht auf diese furchtbaren und unheilvollen Mächte zu stellen. Denn gerade dieser Wille war letztlich der tragende Grund der Verständigung zwischen den verschiedensten Kreisen unseres Volkes. 

Und ein Drittes: In jenen Tagen ist uns Freundschaft geschenkt, Freundschaft, die bis heute hält zwischen denen, die gemeinsam widerstanden und gemeinsam litten. Und aus wie verschiedenen Lagern und Ständen kamen sie, wahrlich nicht eine kleine Clique, sondern eigentlich das ganze Volk, das andere Deutschland in einem wirklichen Querschnitt durchs Ganze der Nation. Sollten wir uns nicht in aller Stille die Hand darauf geben, dass es trotz aller, gewiss notwendigen Gegensätze, fern allem Landesstolz und Klassenhass, bei dieser Verbundenheit bleiben sollte, die allein Verheißung und Zukunft hat?

Und schließlich ein Viertes: An dieser Richtstätte können wir nicht anders, als an die furchtbare Justiz denken, der jene Opfer unterworfen waren. Wie sollte diese Erinnerung nicht in uns den Willen stärken, dass solch eine Rechtsprechung, die in allem, in der Art der Prozessführung wie der Urteilsfindung wie der Vollstreckung Unrecht war, nie wieder bei uns geübt werden soll. Denn Rechtsprechung ist grundsätzlich etwas anderes als Kampfmittel des Staates oder derer, wie ich es damals nannte, latente Bürgerkrieg, der nur die äußere Form der Rechtsprechung angenommen hatte.

Wenn wir uns in dieser Weise im gemeinsamen Gedanken zusammenschließen, ist dann nicht der, der eigentlich die Geschicke unserer aller lenkt, schon mitten am Werk, uns sehr Gedemütigte lebendig zu machen nach seinem ewigen Wort der Verheißung? Es ist sein Wesen, der Lebendige zu sein und die lebendige Zukunft in seiner Hand zu haben. Wie diese aussieht, können wir niemals wissen, brauchen es auch nicht, sie liegt immer hinter dem Horizont unserer menschlichen Perspektive. Er aber, der der Herr der Zukunft ist, hat es für Menschen zerschlagenen und gedemütigten Geistes ein für alle Mal offenbart, dass der Ort des Todes, des Galgens, des Kreuzes Leben ist. Er möchte es auch uns in dieser Stunde zeigen, wenn wir sein Angebot nur spüren und in seine Hand einschlagen, dass dieser Ort des Todes, dieser Schuppen und diese Richtstätte Ort des Lebens ist, Hinweis auf das, was in die Zukunft unseres Volkes weist und wichtig und wesentlich ist für das, was morgen kommt.

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