Die Opfer, derer wir gedenken, brauchen unsere Ehrung nicht.

Die Opfer, derer wir gedenken, brauchen unsere Ehrung nicht.


Ansprache von Pater Odilo Braun am 20. Juli 1954 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin


Der Bundespräsident, der Bundeskanzler, Mitglieder der Bundesregierung und freie, in freier Wahl gewählte Vertreter des deutschen Volkes sind heute an dieser Stätte, die ich Deutschlands Weihestätte nennen möchte, erschienen, um den Opfern vom 20. Juli und allen Opfern der furchtbaren Schreckensherrschaft in Ehrfurcht einen Gruß zu entbieten. Sie tun es als Repräsentation des ganzen deutschen Volkes, des Volkes, dessen Namen man missbraucht hat, als man die Urteile über die Opfer sprach. Und darum ist diese Stunde, wenn es Stunde der Ehrung sein soll, in erster Linie Ehrung des deutschen Volkes, dem man die Schmach abnimmt; diesen Makel ablöst, weil im Namen des Volkes, im Namen des deutschen Volkes Schandurteile gesprochen worden sind. Und darum begrüße ich gerade diese Stunde dankbar als Ehrung des deutschen Volkes.


Die Opfer, derer wir gedenken, brauchen unsere Ehrung nicht. Das, was sie getan haben, ehrt sie selbst und ihre Tat. Und wie sie es getan haben, das kann uns allen nur leuchtend Beispiel sein, und das soll uns allen Anlass sein, nachzudenken und eine Selbstprüfung zu halten, ob wir alle in solcher Stunde einer solchen Größe fähig sein könnten.


Wir Christen kennen alle den Kreuzweg des Herrn. Er ist in unseren alten Kirchen in Stein gehauen dargestellt, er ist in den Kirchen im Bild festgehalten. – Da geht unser Herr in 14 Stationen seinen Kreuzweg. Er fängt an vor dem Richterstuhl des Pilatus, wo er das ungerechte Todesurteil empfängt, und geht dann weiter von Station zu Station bis Golgatha, wo es vollbracht ist, und bis zur Grablegung. Und auf diesem Kreuzweg des Herrn gibt es drei Stationen – es sind die dritte, die siebente und die neunte – wo der Herr, der Gottesmensch, von den Misshandlungen und von all dem, was seit der Gefangennahme geschehen ist, ermattet unter seinem Kreuze zusammenbricht. Einmal bei der dritten, das zweite Mal bei der siebenten, das dritte Mal bei der neunten Station. Aber er steht auf und geht weiter, bis es vollbracht ist.


Ich kenne einen der Männer vom 20. Juli. Am Tage nach seiner Verhaftung, als er in seiner Gefängniszelle den jungen Tag begrüßte, da hielt er Umschau und sah dann in seiner Zelle einen kleinen Nagel. Den zog er heraus, und mit der Spitze dieses Nagels ritzte er nun in die Wand seiner Zelle Zahlen, von eins bis vierzehn, so groß und im Abstand so weit, wie es der enge Raum seiner Zelle ihm erlaubte. Da hatte er nun seinen Kreuzweg und den ist er nun gegangen. Tag für Tag, in der Nachfolge Christi.


Als die erste Station mit dem Urteil vorbei war, man war bald damit fertig. Wer Ehre hat, der trägt sie in sich, und dem kann ein ungerechtes Urteil nichts von seiner Ehre nehmen. Und was sonst geschehen war zwischen Verhaftung und ungerechtem Todesurteil, was zuerst vielleicht etwas entsetzt hatte, vielleicht auch etwas Empörung hervorgerufen hatte, das war bald zu einem großen Mitleid geworden, Mitleid um die Menschen, die so sehr ihr eigenes Menschsein verloren hatten, dass sie sich zu solchem unterfingen, was unseren Opfern widerfahren ist. – Und dann


ging er seinen Weg weiter, seinen Kreuzweg, und dachte noch einmal nach: „Das Leben soll zu Ende sein – das Leben liegt noch vor mir. Was hatte ich geplant! Grad erst am Anfang bin ich gestanden und das alles sollte und sollte noch werden – und nun soll es aus sein? Das Leben soll zu Ende sein?“


Da war seine dritte Station, sein erster Fall unter dem Kreuz. Und da lag er nun da, in dieser Todesnot, verzweifelt fast darüber, dass nun alles, alles, was erst im Anfang war, ein Ende gefunden haben soll. Aber dann dachte er nach unter seinem Kreuz: „Warum tat ich’s denn, was ich getan habe? Weil ich das Leben so nicht mehr ertragen konnte! Und ich hätte gar nicht so weiter leben können. Darum musste ich es tun, und wenn es auch das Leben gilt, ich habe für das richtige und eigentliche Leben mein Leben eingesetzt. So sei's drum: Gott, nimm es hin!“ Steht auf und geht seinen Kreuzweg weiter.


Nun hat er abgeschlossen und steht vor dem Abschied. Da steht sie vor ihm, die geliebte Gattin, die Mutter seiner Kinder. Die Kinder kommen selbst, eins nach dem anderen, und bei manchen war es eine große Zahl, und der Abschied währte lang. Und eine Mutter stand da, abgehärmt, und ihre leiderfüllten Augen schienen zu sagen: Warum tatest du das? So viele aus unserer Familie sind schon draußen geblieben und nun du auch noch. Dieser Schmerz! Da liegt er, und dieser Fall unter dem Kreuz bei der siebenten Station ist noch viel schwerer, viel tiefer. Aber dann wägt er ab das Für und Wider. Worum ging’s bei meiner Tat? Und da wird ihm klar: Ich könnte ja nicht mehr vor Gott und vor meinem Gewissen bestehen, und ich könnte euch nicht mehr frei und offen ins Auge blicken, wenn ich das nicht getan hätte, was ich tat. Ich musste es ja grad für euch tun! Gott gab mir die Pflicht und die Aufgabe, für euch zu sorgen, euch zu helfen, euch wirklich auf dem Weg durch dieses Leben Halt und Stütze und Hilfe zu sein, dass ihr alle einmal zu Gott kommt. Und darum, aus dieser Pflicht heraus, musste ich so handeln. Und nun gehe ich euch voran zu Gott. Das werdet ihr nie vergessen, dass dies meine größte Tat der Hilfe für euch gewesen ist. – Steht auf und geht weiter, nun schon gelöst mit dem Blick in weite, weite Fernen. Und denkt auch daran, wie es hier auf dieser Erde sein wird, später, was daraus werden wird, aus dem, was sie geplant hatten.


Und da wirft es ihn noch einmal zurück, und er gibt sich Rechenschaft darüber, wie ist denn alles geworden? Haben nicht erst menschliches Versagen, dumme Eitelkeit und Wortbruch und Lüge und Intrige und all diese menschlichen Armseligkeiten, haben die nicht erst der Bosheit den Weg bereitet, dass sie einmal zur Herrschaft kommen konnte? Und da kommt ein großes Erschrecken über ihn: Und wie wird’s sein im neuen Gemeinwesen? Werden da auch wieder diese Armseligkeiten da sein und vielleicht neue Gefährdung bringen? Werden sie die Saat sein zu neuer Untat und zu neuem Schrecken? Das ist sein schwerster und tiefster Fall bei der neunten Station. Dann wäre alles umsonst, wenn es später wieder so kommen sollte! Und da blickt er auf den, in dessen Fußstapfen er geht. Er ging, weil der Vater es wollte! Und so ist ihm klar: Man ist kein Dienstmann! Man tut Gutes um des Guten willen und fragt nicht, was sonst sein könnte. Das Gute muss getan werden um Gottes willen und darum, dass der Mensch leben kann! Er steht und geht weiter.


Und dann war der Weg von dort hierher zum Schuppen, war nicht ein Weg von armseligen Verurteilten – das war der Weg der Sieger! Die überwunden hatten, und die nun gegangen sind zum Teil – es wird von Augenzeugen berichtet – mit einem



Leuchten in den Augen, mit einer Verklärung, die von innen kam, auf ihrem Antlitz. So gingen sie, um die Siegeskrone in Empfang zu nehmen.
Wir blicken ihnen nach, bewundern sie, sollen aber nachdenken. Und ich bitte Sie jetzt, sich von den Plätzen zu erheben. Und wenn wir unserer lieben Toten eine Minute des Gedenkens weihen, dann soll zugleich in dieser Minute ein Gebet aus unseren Herzen steigen, ein Gebet – und unsere Toten rufen uns zu: Orate fratre – betet, Brüder und Schwestern, betet mit uns, dass unser Opfer vor Gott wohlgefällig sei und segensreich werde für unser Volk!

Weitere Reden

20.07.1954
Prof. Dr. Günther Harder