Ein denkwürdiger Sieg des Geistes über das Gemeine

Arnold Bergstraesser

Ein denkwürdiger Sieg des Geistes über das Gemeine

Gedenkrede von Prof. Dr. Arnold Bergstraesser am 20. Juli 1963 im Ehrenhof des Bendlerblocks in der Stauffenbergstraße, Berlin

Am 20. Juli 1944 erfuhr die Welt außerhalb des deutschen Herrschaftsbereichs zunächst nichts anderes, als was die nationalsozialistischen Machthaber des Deutschen Reiches über die Tat der Widerstandsbewegung zu berichten für gut hielten: Eine Gruppe von „Reaktionären“ war mit ihrem Unternehmen gescheitert, das die politische und militärische Führung Deutschlands an sie selbst bringen sollte. Höchstens, dass man in der späten Endphase des Zweiten Weltkrieges, die seit Stalingrad und erst recht seit der alliierten Landung im besetzten Frankreich als solche eindeutig erkennbar war, noch ein Wort hinzufügte, um die Unerbittlichkeit des Siegerwillens zu stärken: Die Adligen und Offiziere, die den Versuch einer gewaltsamen Beendigung der Diktatur Adolf Hitlers gemacht hatten, seien dabei von der Absicht geleitet gewesen, den alliierten Gegnern in später Stunde den Sieg und seine Vollstreckung noch aus den Händen zu winden.

Mitten im Kampf, mitten in noch währenden militärischen und psychischen Anstrengungen musste auch bei freiheitlichen Völkern, denen der Krieg an sich als verabscheuungswürdig, mindestens als das schlechthin Außergewöhnliche erschien, die Kraft der Vorstellung selten sein und wortlos bleiben, die befähigt, das innere Geschehen beim Feinde zu fassen. Auch war das Gefühl nicht trügerisch, das manchen gerade in der Bewegung des Widerstands schon damals die eigentümlich deutschen, für den Fremden nicht unmittelbar verständlichen Kräfte spüren ließ: eine Unbedingtheit des ethisch begründeten politischen Willens, hervorgerufen und gesteigert gerade durch den Gegensatz zu Verbrechen, deren Ausmaß freilich noch allgemein keineswegs bekannt war; eine Universalität der ethisch-politischen Verpflichtung, die umso weniger glaubwürdig klang, weil sie auch dem nationalpolitisch verengten und vereinfachten Denken außerhalb Deutschlands widersprach, das 1944 viel mehr noch als heute die Gesinnungen der Welt beherrschte; eine Treue schließlich gegenüber dem geistig Eigensten, vor dem sein verführerischer Verderber als der schlimmste Feind der Zukunft dieses Eigenen sich enthüllen musste, eine Treue also, in der sich der Glaube aufrecht erhielt gerade im Widerstand gegen die Handlungen der Machthaber und ihre laute Verkündung.

Weil aber all dies nur der nachdenklichen Besinnung begreiflich wird, eben darum musste es Jahre dauern, bis wir selbst lernten, uns an das Licht zu halten, das während der inneren Katastrophe der nationalsozialistischen Herrschaft und der äußeren des Zweiten Weltkrieges in unserer Mitte entzündet worden war. Es musste lange dauern, bis die Welt jenseits der Grenzen zu verstehen begann, dass mit dem Aufstand gegen die innere Eroberung des deutschen Volkes durch den Widergeist des Unrechts auch für sie selbst und ihre Zukunft Bedeutsames geschehen war. Inzwischen haben längst die Zeugnisse der Männer und Frauen des Widerstands, inzwischen hat längst die historische Forschung Missdeutungen aufgelöst, die, von außen oder innen kommend, dem Verständnis des 20. Juli und damit seinem fortzeugenden Gedächtnis entgegenwirken. Längst wissen wir, dass ohne Unterschied der sozialen Herkunft, des Berufs, der Glaubensüberzeugung und der politischen Grundauffassung Einsatz und Opfer des Lebens gebracht worden sind. Längst weiß die Welt, dass eine schwere Entscheidung des Gewissens, und zwar des lange Jahre hindurch verletzten und gequälten Gewissens, jene Gesinnung bestimmt hat, die sich an dem heute zum 19. Male wiederkehrenden Tag zum Handeln verdichtet hat und danach dem Leiden unterworfen worden ist. Nur zu wünschen ist die weitere Erhellung von Entstehung, Verumständung und Verlaut des Widerstandes in der Epoche des Nationalsozialismus. Das Bild von Gedankenwelt, Entschluss, Tat und Leiden des Widerstands aber besteht. Es wird dauern in Gemüt und Gedenken als vorbildlicher und denkwürdiger Sieg des Geistes über das Gemeine.

Die Gegenwärtigkeit dieses Bildes, ja der sich wiederholende gemeinsame Rückblick fordert von uns die Besinnung darauf, was es uns, den Unsrigen und unseren Nachfahren mitzugeben vermöchte in die Zukunft.

Worin bestand der gemeinsame Geist, der alle Verschiedenheit der Auffassungen und Urteile zu überwölben vermochte? Inwiefern ist aus der deutschen Überlieferung in dieser Tat ein neuer und fruchtbar vergeistigter Trieb hervorgegangen? Was war der politische Gehalt des ethisch begründeten Entschlusses, sie zu tun? Zeigt sich vielleicht an der Gesinnung des Dienstes, in der sie gedacht und getan wurde, ein Erbe, das uns beistünde in Gefährdungen, die noch vor uns liegen, und das hinauswiese über das nur Deutsche seines Ursprungs in das schlechthin Menschliche und seine Zukunft?

Die totalitäre Diktatur des nationalsozialistischen Einparteienstaates war möglich geworden durch die der zerstrittenen Weimarer Republik eigentümlichen Schwächen. Zwischen den Verfechtern der Parole „Alles oder Nichts“, mit der man in nationalistischer Engigkeit in den letzten Jahren des Ersten Weltkrieges den „Endsieg“ zu erzwingen suchte, und den Kräften, die einen Frieden nicht nur der vernünftigen Einsicht, sondern der vorausschauenden Gerechtigkeit anstrebten, war ein tiefer Widerstreit entstanden. Nach 1919 blieb er weiter wuchernd wirksam. Die führenden politischen Persönlichkeiten der Weimarer Republik haben zwar in schlichter Dienstleistung den Bestand von Volk und Staat zu erhalten verstanden, zunächst gegen die von der politischen Reaktion wie gegen die von der Revolution her drohenden Gefahren sich erfolgreich wehrend. Sie haben den nachhaltigsten außenpolitischen Gegensatz, den zu Frankreich, nicht ohne Fortschritte aufzulösen versucht. Aber sie vermochten den inneren Widerstreit nie in der Tiefe zur Überwindung zu bringen. Er war freilich zugleich sowohl durch den Versailler Vertrag selbst als vor allem durch die Art seiner Deutung und Ausführung am Glühen gehalten worden. Ja, sie haben nicht erreicht, die Auffassung der Politik als Kampf, und zwar als mit List und Gewalt zu führenden Kampf, zwischen unversöhnlichen Gegensätzen der Denkweise zu ersetzen durch die gefestigte Einsicht in die sich ankündigende Wandlung der Welt und den Vorrang des inneren wie des äußeren Friedens, des Wissens um die Gemeinsamkeit im Innern und um die Notwendigkeit der Verständigung nach außen. So wurde dieses Staatswesen schließlich zur Beute der sich absolut setzenden äußersten Gegner im innerpolitischen Kampfe. Trotz vielfacher Erkenntnis der drohenden Gefahr fanden die verfassungstreuen Parteien der Weimarer Republik nicht die Kraft, aus den Gemeinsamkeiten zu bestehen, die eine friedliche Bestimmung des politischen Willens ermöglicht und für die innere Einheit wie für die Hoheit des Staates – ein heute ungewöhnliches Wort – eine Rechtfertigung bedeutet hätten.

Die nationalsozialistische Bewegung dagegen hatte als hierarchisch disziplinierter Körper mit skrupellos entschlossener List die Machtergreifung vorbereitet und vollzog sie unter Ausnutzung plebiszitärer und parlamentarischer Formen. Von Monat zu Monat enthüllte sich dann klarer der revolutionäre Gehalt und der jeder Ethik widersprechende Sinn dieses Staatsstreichs. Längst war die nun herrschende Partei zu einem bloßen Instrument des Führerwillens geworden. Längst hatte man damit begonnen, die Würde des Menschen zu verletzen durch den physischen Zwang und den ihn als Drohung verwendenden propagandistischen Terror. Ja, man ging daran, den Menschen „umzuformen“ nach den verworrenen Vorstellungen des Usurpators, – ohne Ehrfurcht vor der Geschöpflichkeit dieses Wesens und ohne Ahnung von der geistigen Überlieferung, die auch der deutschen Geschichte eine Verpflichtung zu Gerechtigkeit, Humanität und Liebe mitgeteilt hat. So fanden wir uns in einem Gemeinwesen, das keines mehr war.

Im Namen der sogenannten Volksgemeinschaft begann man, durch die organisierte innere Überwachung der Gesinnung die Gemeinschaft zwischen den Menschen aufzulösen. Wie es einst die Vaterlandspartei in den letzten Jahren des Ersten Weltkrieges versucht hatte, maßte man sich nun die absolute Interpretation dessen an, was Vaterland bedeutete. Man beugte das Recht im angemaßten Namen des Rechts; ja der, der sich Führer nannte, nahm das sogenannte Recht „in die eigene Hand“, gegenüber den eigenen Genossen wie gegenüber solchen, die auch noch im Schweigen ihm gefährlich schienen. Die Übung des politischen Mords aus den ersten Jahren der Weimarer Republik fand eine schauerliche Erneuerung. Man begann, die Doktrin des Antisemitismus zur nationalen Verpflichtung zu erheben und im Namen dieses zoologisch konzipierten Rassenprinzips die eigenen Staatsbürger und Volksgenossen zu entrechten und zu verfolgen. Ja, man löste die gegenseitige Treuepflicht innerhalb der Wehrmacht auf, obwohl gerade auf ihr Dienstleistung und Gehorsam des Soldaten beruhen. Den suchte man dann freilich neu zu binden durch den Eid auf die Person des sogenannten „Führers“, einen Eid, der verpflichtend sein sollte auch gegen das Gewissen.

In diesen Jahren der zunehmenden, durch die verfügbaren technisch-organisatorischen Mittel gesteigerten Verknechtung begann sich der Widerstand zu sammeln, in der Geborgenheit der Familie, in der still geübten Pflicht der Hilfe, im gemeinsamen Nachdenken unter verlässlichen Freunden, manchmal im Aussprechen eines gewagten Wortes und in der Antwort darauf, ja in der Suche nach Gesichtern, die noch nicht gezeichnet waren von der rohen Dummheit der herrschenden Gewalt. Hier gab es den katholischen Christen, der beim Lesen der anonym gegen die Rassendoktrin Rosenbergs gerichteten Arbeit oder bei der Verkündigung der Enzyklika „Mit brennender Sorge“ zu seinem wahren Selbst hinfand. Hier gab es den Evangelischen, der in der Heiligen Schrift, gestützt von der Kanzelrede der Bekennenden Kirche, wiederum erfuhr, wo die geistige Heimat des Menschen unverlierbar auch mitten in der Verderbnis der Welt zu finden ist. Hier gab es den Humanisten, der, erfahren in der abendländischen wie in der deutschen geistigen Überlieferung, sich, wenigstens sich selbst und seine Nächsten, im stillen Kampf gegen die vordergründige Gegenwart zu erneuern verstand im Geiste der Forderung, „dass gepfleget werde der veste Buchstabe und bestehendes gut gedeutet.“ Hier gab es den Sozialisten, der die künstliche, der Freiheit den Atem raubende Zwangsorganisation aller Verbände durchschaute, weil ihn Erziehung und Erfahrung den Klang gelehrt hatten, den wahre menschliche, soziale und politische Solidarität besitzt.

Aber diese Gemeinsamkeiten des Selbstverständnisses im Widerstand waren zunächst zur politischen Ohnmacht verurteilt durch den immer enger werdenden Zwang des totalitären Herrschaftssystems. Die einstigen Kriegsgegner haben zudem, wie England in der Hoffnung auf die Erhaltung des Friedens, wie Sowjetrussland in machiavellistischer Wahrnehmung des eigenen territorialen und revolutionspolitischen Vorteils, ihrerseits das nationalsozialistische System bis in die Anfänge des Zweiten Weltkrieges hinein gestützt. Und so erwies sich dann eindeutiger, als selbst aufmerksame Leser es erwarten konnten, die Richtigkeit des im Buche „Mein Kampf“ Gesagten als der Kern des Denkens und Willens des totalitären Führers auch im Bereiche der internationalen Politik. Die Hybris der Absolutsetzung dieses Willens war nur noch gesteigert worden durch die temporären Erfolge in der Saarabstimmung, in der Remilitarisierung des Rheinlandes, in der Angliederung Österreichs und mit dem die Deutschen der Tschechoslowakei dem Reich zuführenden Münchner Abkommen von 1938. Nun verführte dieselbe Hybris die von ihr Ergriffenen zur rücksichtslosen Verfolgung ihrer europäisch-politischen Ziele in blinder Verkennung der Vernunft und in maßloser Geringschätzung des Risikos. Vergeblich versuchten manche Männer des Widerstands und ihnen Nahestehende, in diesen Momenten noch hindernd oder warnend einzugreifen. Als der Entschluss gefasst war, der über den Beginn des Zweiten Weltkrieges entschied, erhob sich bei der damaligen Führung des Deutschen Reiches, den Zwang der Gewissen verstärkend, eine Gesinnung nationaler Überheblichkeit, die nicht allein aller politischen Einsicht widersprach, sondern im verblendeten Vertrauen auf List und Gewalt und in der politischen, ja moralischen Verpflichtung zu sinnloser Vernichtung als fremd erklärter Rassen- und Volksgruppen die Wahrheit des deutschen Antlitzes verwandelte in eine satanische Verzerrung.

In diesen Jahren verdichtete sich das Nein zu dem Staat, zu der Politik, zu dem Wesen des nationalsozialistischen Deutschlands, das Nein, aus dem, nach den vorhergehenden vergeblichen Versuchen des ändernden Eingriffs, schließlich die Tat des 20. Juli hervorging. Es war ein Nein des Gewissens, ein Nein der Verantwortung, ein Nein der Scham. Es konnte gesprochen werden, weil es beruhte auf einem gemeinsamen Ja.

Worin bestand aber die Gemeinsamkeit dieses Ja? In einem im Nachlass Ulrich von Hassells mitgeteilten Grundgesetzentwurf – er trägt den Titel „Gesetz über die Wiederherstellung geordneter Verhältnisse im Staats- und Rechtsleben“ – lautet der erste Satz: „In allen Lebensbeziehungen sollen die Regeln des Anstands und der guten Sitten oberstes Gesetz des Handelns sein.“ Eine zentrale Stelle der Kreisauer Dokumente verlangt „Brechung des totalitären Gewissenszwangs und Anerkennung der unverletzlichen Würde der menschlichen Person als Grundlage der zu erstrebenden Rechts- und Friedensordnung.“ In Goerdelers im Gefängnis niedergeschriebenen Gedanken „Über den künftigen inneren Zustand Deutschlands“ heißt es: „Grundlage des staatlichen Wirkens müssen Anstand und Lauterkeit sein, sie müssen auch die Beziehungen der Menschen untereinander bestimmen, und zwar auf allen Gebieten des Zusammenlebens.“

Anstand, gute Sitten, Lauterkeit, schließlich die unverletzliche Würde des Menschen – die ja mit dem 1. Artikel das Bonner Grundgesetz einleitet – sind das nicht zu einfach gedachte, allzu konturlose Begriffe, von denen die Grundlage verlässlicher Gemeinsamkeit für die Bildung der politischen Ordnung und des öffentlichen Willens nicht erwartet werden kann? Waren nicht doch etwa die konkreten Vorschläge, die zur Verwaltungsordnung des Reiches, zur Kirchenpolitik, zur Erziehungspolitik, zur Durchführung des Prinzips der sozialen Solidarität gemacht wurden, viel wichtiger?

Nein. Die leidende und die denkende Erfahrung des Unrechts, der Unordnung, des Gewissenszwangs, des organisierten Misstrauens wirft jeden von uns zurück auf die einfachen Grundpostulate der Daseinsführung. Wir entdecken unser sicheres Wissen um die Menschenwürde und gute Sitten gerade an ihrer Verletzung. Eben aus der unvermeidlich gewordenen Unbedingtheit der Verneinung erhebt sich in klarer Einfachheit der consensus der Bejahung des Menschenwürdigen an unserer Bestimmung. Diese gemeinsame Gesinnung hat die Vielheit der geistigen Ahnenschaft der Menschen überwölbt, deren wir heute gedenken. Zugleich hat sie freigelegt, dass für sie der gemeinsame Begriff des Vaterlandes nicht der des physischen gewesen ist, der doch nur die Voraussetzung bilden kann für das eigentliche, immer als Aufgabe gestellte geistige und seelische Deutschland.

Der katholische Priester schreibt im Angesicht des Todes: „Ein Deutschland, in dem die abendländischen Urströme, Christentum, Germanentum (nicht Teutonentum) und Antike nicht mehr quellrein fließen, ist nicht Deutschland und ist kein Segen für das Abendland.“ Der evangelische Theologe findet Adalbert Stifters Witiko in der Gefängnisbibliothek und rechnet dieses Buch zu „den schönsten, die er überhaupt kennt“, dieses Vorbild des Herrn, der in dienender Sorge Aufmerksamkeit und Mut zur Gründung des ihm anvertrauten Umkreises sammelt, der, in der Erscheinung des hochmittelalterlichen Adeligen zwischen Deutschen und Slawen wirkend, doch die überhistorische Wirklichkeit des lenkenden Gemeinsinns schlechthin verkörpert. Der Professor der Philosophie sagt vor dem Gericht, das ihn zum Tode verurteilt: „Rückkehr zu klaren, sittlichen Grundsätzen, zum Rechtsstaat, zu gegenseitigem Vertrauen von Mensch zu Mensch, das ist nicht illegal, sondern umgekehrt die Wiederherstellung der Legalität. Ich habe mich im Sinne von Kants kategorischem Imperativ gefragt, was geschähe, wenn diese subjektive Maxime meines Handelns ein allgemeines Gesetz würde. Darauf kann es nur eine Antwort geben: Dann würden Ordnung, Sicherheit, Vertrauen in unser Staatswesen, in unser politisches Leben zurückkehren. Jeder sittlich Verantwortliche würde mit uns seine Stimme erheben gegen die drohende Herrschaft der bloßen Macht über das Recht, der bloßen Willkür über den Willen des sittlich Guten.“ Und ist nicht ebenso der genossenschaftlichen Überlieferung der deutschen Geschichte die kämpferische Persönlichkeit jenes Sozialdemokraten verpflichtet, der Verantwortungsbewusstsein und Selbstzucht von demjenigen verlangt, dem die Staatsbürger die Staatsautorität übertragen? „Eine starke Staatsautorität hat hier dem Volksbewusstsein Grenzen einzuprägen, allerdings in einer Form, die jedem Staatsbürger das Gefühl größter persönlicher Freiheit lässt.“

Die Männer des Widerstands führten ihr Dasein unter dem Gesetz einer nicht selbstbezogenen, sondern einer an das Ganze hingegebenen Leistung des dienenden Gehorsams. Alles war „ein aus der Besinnung und Kraft unserer Heimat, deren tiefe Liebe ich meinem Vater verdanke, aufsteigender Versuch“ – so schrieb am Abend nach seinem Prozess vor dem Volksgerichtshof einer von ihnen, der dann aus Solidaritätsverpflichtung und um der Zeugniskraft des Opfers willen zu vornehm war, die Möglichkeit der Flucht zu ergreifen.

Sollte nicht dieser durch Tat und Leiden besiegelte Glaube an das Vaterland als stetig neu zu erwerbendes Erbteil, das mit den ersten Bildern der Landschaft und den ersten Lauten der Muttersprache unser Eigentum zu werden beginnt, für die Überlebenden und die Nachgeborenen Bedeutung gewinnen? Wäre nicht die in ihm liegende Forderung kritischer, nämlich nach den besten Maßstäben sich richtender geistiger Treue kraftvoll genug, um auch das Wort Vaterland selbst zu reinigen von den Spuren seines Missbrauchs? Könnten wir nicht am Gedenkbild des 20. Juli lernen, worin denn unser wahrer Stolz heute liegen sollte, nämlich darin, der magnanimitas, der Größe der Gesinnung, eine Stätte zu bereiten in einer Zeit, die eher das niedere materielle Begehren als das Streben nach höherer menschlicher und gemeinschaftlicher Erfüllung begünstigt?

Manchmal scheint es, als hätte die Entzauberung des Staates durch Herrschaft und Katastrophe des Nationalsozialismus auch eine Entzauberung des Menschseins zur Folge gehabt. Sollte darum das Wort Schillers ungehört verhallen, das ein Flugblatt des Widerstands in die Erinnerung zurückrief: „Der Staat selbst ist niemals Zweck, er ist nur wichtig als eine Bedingung, unter welcher der Zweck der Menschheit erfüllt werden kann“? Sollten wir versäumen, unser eigenes Vaterland in seiner menschheitlichen Sinnbestimmung zu erfassen, wir, Angehörige eines Volkes, dessen tausendjährige Geschichte im Namen der gerechten Ordnung des Menschendaseins begonnen hat, Angehörige eines Volkes, das auch aus den tiefsten, sich wiederholenden Katastrophen das Wort des rettenden Geistes noch immer zu vernehmen verstand, sollten wir daran verzweifeln, mit diesem Erbe aus Leiden und Geist der Zukunft der Menschheit dienen zu können?

Nachdem bald zwei Jahrzehnte seit dem Untergang des Nationalsozialismus vergangen sind, nachdem sich die politische Weltlage grundlegend verändert hat und ihre Spannungen sich in dem geteilten und unter schmerzlichen Verlusten in enge Grenzen zurückverwiesenen Deutschland spiegeln, nachdem wir in der Bundesrepublik in öffentlichen Institutionen leben, die ihrer Idee nach in vieler Hinsicht dem konstruktiven Gehalt entsprechen, der dem Widerstand damals seine Kraft gab, heute, wo wir uns oft zu verlieren scheinen in der Entfaltung der Wohlstandsgesellschaft, in vordergründigem Streit, in blinder Bejahung oder aber in destruktiver Kritik der politischen Zustände, heute gerade gilt es, die einfache Klarheit der gemeinsamen Grundüberzeugungen des Widerstandes zu sehen und festzuhalten. An ihrer die Gemeinsamkeit begründenden Einheit wird zugleich die sich vielseitig versuchende Kraft unserer geistigen Überlieferung deutlich. Denn nur auf diesem menschlich eindeutigen Grunde konnte sie sich erheben.

Die nachdrückliche Besinnung vor einem der wichtigsten Ereignisse unserer neueren Geschichte verlangt nicht nur das Wissen um den Gedankengehalt des Widerstands, sondern die eigene Entschlossenheit, unser ganzes politisch-menschliches Geschick im Geiste des damals bewährten Gemeinsinns selber auf uns zu nehmen. Sie verlangt auch, dass wir den Nationalsozialismus nicht nur abtun als ein falsches politisches System, dass wir seine Politik, wie es dem Rückblick leichter fällt als der Vorausschau, nicht nur historisch-soziologisch deuten und sie ablehnen wegen ihres widersittlichen und übermütig leichtfertigen Spiels mit der Zukunft des eigenen Volkes und der der anderen Völker. Sie verlangt vielmehr von uns, an den Untugenden, die dieses System pflegte und von denen allein es leben konnte, für die Tugenden zu lernen, die wir selbst menschlich und politisch zu pflegen willens sein müssen. Der Widerstand hat eine richtende Bedeutung auch für unsere Gegenwart und Zukunft.

Freilich ist der Nationalsozialismus mit der Katastrophe von 1945 zu Ende gegangen, und er kommt nicht wieder. Aber solche Komponenten des Unverständnisses von Mensch und Welt und des falschen Verhaltens zu Mensch und Politik sind auch heute wirksam, die seine Entstehung nach dem Ersten Weltkrieg und seine Machtergreifung vor drei Jahrzehnten möglich gemacht haben. Seine Herren, unsere damaligen Herren, vermochten eine andere als eine nationalsozialistische Zukunft für das deutsche Volk nicht zu sehen. Sie konnten sich selbst nicht erlauben, auch nur das Denken über eine solche Zukunft zuzulassen. Ihr ehrfurchtsloser Zynismus vor dem Volk, das zu erobern und zu beherrschen sie sich angemaßt hatten, ihre selbsterfundene Meinungskontrolle hielt sie in der Gefangenschaft der falschen Absoluta, an die ihre Denkweise gebunden war. Darum fanden ja nicht allein die Täter des Widerstands den Tod, dessen sie selber für den Fall ihres Scheiterns gewiss waren. Auch die nur Denkenden, die aus überzeugter Einsicht die Tathandlung verneinten, aber angesichts der hereinbrechenden Katastrophe ihrer Sorge um die spätere Zukunft nachgingen, waren bedroht, und viele von ihnen erlitten den gewaltsamen Tod. Einer, dessen Verhandlung sogar vor dem nationalsozialistischen Gerichtshof sein „Freisein von jedem Zusammenhang mit der Gewaltanwendung“ erwies, erkannte es als höhere Berufung, wie er schließlich „als Christ und als gar nichts anderes“ verurteilt und zum Tode gebracht wurde.

Damals ging es darum, der Maßlosigkeit nationaler Selbstüberschätzung, der Ehrfurchtlosigkeit vor den Menschen, vor dem eigenen Volk, vor anderen Völkern, der aus ihr sich notwendig ergebenden doktrinären Verblendung gegenüber der menschlichen, sozialen, politischen und militärischen Wirklichkeit entgegenzuwirken. Die Gespräche, Zeugnisse und Erinnerungen, die uns überkommen sind, enthalten Gedanken für eine des Menschen und seiner höheren Bestimmung würdigen Zukunft. Sie waren zugleich vaterländisch und menschheitlich gedacht. Sie entsprangen der Überwindung des tiefen Konflikts zwischen ethischer und nationaler Verpflichtung durch die Überzeugung, dass derjenige lebt für das Vaterland als ein Glied der Menschheit, der entschlossen dem Verrat seiner höchsten Werte widerstrebt. Ein Aufstand des Geistes. Ein Handeln in extremis.

Welch ethisch-geistige Kraft, die den einst zur obersten militärischen Führung berufenen General, aufgewachsen in lebenslanger Bewährung des Gehorsams, innerlich dazu zwingt, führend an dem Versuch sich zu beteiligen, das Unheil zu wenden oder doch wenigstens die Quelle des Unrechts zu verriegeln. Welche innere Festigkeit des jugendlichen Offiziers, der nach gescheiterter Tat mit dem Rufe fällt: „Es lebe unser heiliges Deutschland!” Es ist nötig, die ganze Schwere dieses Konflikts nachzuerleben, um die Leistung zu ermessen, die in seiner Überwindung liegt.

Die Gedanken des Widerstands über die Zukunft waren freilich begleitet von der Einsicht in die Begrenztheit des menschlichen Erkennens und Handelns. Aber sie waren getragen von der Überzeugung, das menschliche Geschöpf könne seine Fähigkeiten entfalten zur geistigen, ja zur religiösen Gebundenheit, zur mündigen Einsicht in die Verhältnisse seines Daseins, zur Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit, zur friedlichen Bestimmung des gemeinschaftlichen Willens zum Frieden unter den Völkern und aus all diesen Gründen zu einer Ordnung der Freiheit.

Einmütigkeit ist an diesen Gedanken erkennbar, soweit sie die Wiederherstellung des Rechts und insbesondere der Grundrechte und ihrer institutionellen Garantien betreffen und eben hinsichtlich der Integrität des Beamtentums. „Freiheit der Meinung, des Gewissens, der Religion, der Lehre, des Körpers müssen gegen jeden Eingriff, den nicht der Richter kraft Gesetzes verfügt, geschützt, aber durch Verfassung und Gesetz unter das Gemeinwohl geordnet werden.“ Dies Denken um das Gemeinwohl wurde als Aufgabe freiheitlicher Institutionen unter verantwortungsbewusster und der Wahrhaftigkeit verpflichteter Anteilnahme der Öffentlichkeit verstanden. Darum wurde verlangt, beginnend in frühen Jahren den Staatsbürger zum wirtschaftlichen, sozialen und politischen Verständnis der Gegenwart zu erziehen. Einmütig wird gefordert die Anteilnahme aller Schichten des Volkes „an den materiellen und geistigen Gütern des Lebens“. Weitgehende Einigkeit bestand auch in der Bejahung der persönlichen Verantwortungsfreudigkeit und ihrer rechtlichen, sozialen und erzieherischen Voraussetzungen im Bereich des wirtschaftlichen Lebens.

Freilich blieben bis zum Einbruch des nach dem 20. Juli völlig erzwungenen Schweigens Gegensätze unausgetragen hinsichtlich der Formen, vermöge deren die Forderung der sozialen Solidarität ins Werk gesetzt und mit dem Prinzip der selbständig verantwortlichen Wirtschaftsführung versöhnt werden sollte. Konservativ und sozialistisch begründete Ideen kamen eher zu einer Verständigung untereinander als mit der liberalen Gesellschaftslehre. Die wirtschaftliche Zukunft wurde sogar von Carl Goerdeler in viel höherem Grade sozialistisch gesehen, als über sie in der Bundesrepublik später entschieden wurde. Manches aber, was diese Gedanken auf sozialpolitischem Gebiet vorschlugen, hat seinen Eingang in die Gesetzgebung der vergangenen eineinhalb Jahrzehnte gefunden.

Einmütigkeit herrschte darüber, dass das Ende nationalstaatlicher Isolierung gekommen und ein föderativer europäischer Zusammenschluss geboten war. Freilich war man sich klar, dass nach dem zu erwartenden Zusammenbruch Jahre der Not und des Hasses zu durchmessen sein würden, bevor wir uns die Freiheit erarbeiten könnten, mitzuwirken an unserem Teil an einer gemeinsamen übernationalen Zukunft.

Vieles an den Gedanken des Widerstands ist auch heute noch und gerade heute für uns wesentlich. Vor allem aber ist es die Grundgesinnung, die es festzuhalten gilt. Denn sie ruft uns auf zur Erhebung über das Alltägliche des politischen Streits und zur Erneuerung unserer geistigen Kräfte. Sie erhält uns wachsam gegenüber der Gefahr der Resignation, die doch nur dem zynischen Machiavellismus den Weg bereitet. Sie stellt uns unter die letzten Maßstäbe, vor denen auch wir selber sichtbar sind.

Gleich wie in einem Kristall hat sich in der Bewegung des Widerstands das Beste unserer Überlieferung gesammelt, und nicht allein zur Überwindung der Not von damals. Vielmehr kräftigt uns seine Strahlung zum Bestehen jeder gegenwärtigen und künftigen Not.

Wer darf danach also verzagen vor der gestellten Aufgabe? Hieße es nicht illusionär über das Leben denken, wenn man glaubte, aus der Katastrophe der totalitären Diktatur hätte sich das menschlich, ja das sozial und politisch Vollkommene erheben können? Wissen wir nicht, dass der Kampf der Männer und Frauen des Widerstands immer geführt werden muss, dass jedes Gemeinwesen zu jeder Epoche dieser kritischen und konstruktiv verantwortungsbewussten Hingabe aus Gemeinsinn bedarf, der Reinigung des Trüben also durch das Werk des Geistes?

Darin aber liegt die richtende Forderung, welche die Gegenwärtigkeit der Freunde und Gefährten von damals an uns Heutige und an die Zukünftigen stellt. Sie sollte aufs Aufmerksamste gehört und auf das Lebendigste bewahrt werden. Eine kurze Strecke Weges von diesem Ort zieht sich die widernatürliche Grenze hin, mitten durch die einstige Hauptstadt des Deutschen Reiches, die Grenze, hinter der noch immer 17 Millionen Deutschen – jetzt von einer anderen totalitären Diktatur, aber im Ganzen schon drei Jahrzehnte lang – die Selbstbestimmung entzogen bleibt. Doppelt wichtig ist es, die Erinnerung des Widerstands gegenwärtig zu halten, weil auch die besten Institutionen der rechtsstaatlichen Freiheit uns nicht schützen vor ihrem Missbrauch, es sei denn, wir hielten selber fest an dem Wissen um ihren menschlichen Sinn, es sei denn, wir setzten uns endlich instand, in allen freien Deutschen das Verständnis für dieses politische Grundwissen erzieherisch zu wecken. Wann immer in der Welt – und wie oft geschieht es, auch auf unserem eigenen Boden von Freund und Gegner – das Recht gebeugt und die Gerechtigkeit verraten wird, ist es unsere Sache, auch dann, wenn uns versagt ist, unmittelbar zu helfen.

Darum geht es, dass nicht umsonst war, was im Widerstand gedacht wurde und geschehen ist. Darum geht es, dass wir nicht aufhören, um das Maß zu ringen, das wir in unserer durch extreme Höhen und Tiefen verlaufenden Geschichte gesucht haben. Denn ohne diese Einsicht und ohne dieses Maß werden wir nicht fähig sein, die Zukunft zu bestehen.

Wenden wir uns aber zum Beschluss dieses Gedenkens weg von der geschichtlichen Stunde des 20. Juli 1944, von der geistigen Form, welche die Menschen des Widerstands aus der deutschen und der weiteren abendländischen Überlieferung kommend geprägt hat, von dem politischen Gehalt ihres um eine heile menschheitliche Zukunft kreisenden Denkens und auch von ihrer richtenden Bedeutung für unsere Gegenwart. Wenden wir uns stattdessen noch einen Augenblick ihrem eigenen geschöpflichen Schicksal zu. Dann sehen wir sie als stellvertretend für viele Tausende, ja auch für die Millionen unschuldig Leidender. Dann tritt uns aus vielen der erhaltenen Zeugnisse eines entgegen, nämlich die Tatsache, dass sie sich nicht mehr als die Führenden ihres eigenen Daseins, sondern als die in ihren Gedanken, in ihren Handlungen, in ihren Leiden, in ihrem Geschick Geführten erkannten. Hier ist die Rede von dem inneren Müssen, das den Widerstand erzwang. Hier wird von der tiefen Diesseitigkeit des Christentums gesprochen, in der man erst lerne zu glauben. „Wenn man völlig darauf verzichtet hat, aus sich selbst etwas zu machen ... , nimmt man nicht mehr die eigenen Leiden, sondern das Leiden Gottes in der Welt ernst, ... und so wird man ein Mensch, ein Christ.“ Hier werden Tränen vergossen im Angesichte des Todes, nicht aus Furcht und nicht aus Trauer, sondern vor Dankbarkeit und Erschütterung über diese „Dokumentation Gottes“, als die das Dasein sich rundet, „wenn wir”, so steht es in diesem Briefe zu lesen, ”plötzlich erkennen, dass er ein ganzes Leben hindurch am Tage als Wolke und bei Nacht als Feuersäule vor uns hergezogen ist, und dass er uns erlaubt, das plötzlich, in einem Augenblick, zu sehen.” Und hier wird das Geheimnis der Geburt und der Erneuerung der Welt an der engsten, der zartesten Verbindung zu einem anderen Menschen erkannt. Von dorther wird dann das Wort verstanden: „Hätte ich der Liebe nicht, so wäre ich nichts.“

Von welchen unserer Zeitgenossen als von ihnen dürften wir sagen, es gelte für sie die Rede des Apostels Paulus von sich selbst, bei der wir in nachdenklicher Dankbarkeit so fühlen, als käme sie aus ihrem eigenen, nun schon lang verschlossenen Munde: „Ich habe einen guten Kampf gekämpft, ich habe den Lauf vollendet, ich habe Glauben gehalten; hinfort ist mir beigelegt die Krone der Gerechtigkeit, welche mir der Herr an jenem Tage, der gerechte Richter, geben wird, nicht mir aber allein, sondern auch allen, die seine Erscheinung lieb haben.“






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