"Gott zu gehorchen, fordert die Tat."

Pfarrer Gerlach

„Gott zu gehorchen, fordert die Tat.“

Predigt von Pfarrer Gerlach am 20. Juli 1970 im evangelisch-katholischen Wortgottesdienst in der Sühne-Christi-Kirche, Berlin

Predigttext: Matthäus 13, 44-46

In dem Dokumentarspiel „Claus von Stauffenberg. Porträt eines Attentäters“ spricht Berthold von Stauffenberg mitten in einer Bombennacht den Satz: „Herr, zerbrach den Stecken unserer Treiber und sende uns dein Reich.“ In der gleichen Szene sagt der Darsteller Claus von Stauffenbergs: „Gott zu gehorchen, fordert die Tat.“

Die damalige Tat jener Männer und Frauen war der Akt des Widerstandes gegen das unmenschliche Herrschaftssystem der Nazis. Für diejenigen Widerstandskämpfer, die von ihrem christlichen Glauben bestimmt waren, geschah diese Tat in Orientierung auf das, was im Neuen Testament Reich Gottes bzw. Herrschaft Gottes genannt wird. Es bleibt dabei unerheblich, ob die Vokabel „Reich Gottes“ ausgesprochen wurde: Wichtig ist, dass der Inhalt der Botschaft vom Reich Gottes als Orientierungsmarke im Blickfeld des Handelns erscheint, und dass die Tat des Widerstandes den Inhalt der Botschaft vom Reich Gottes entspricht.

Für Jesus war die Ankündigung des Reiches Gottes die zentrale Botschaft seines Lebens. Er hat diese Botschaft in seinem Handeln konkretisiert. Er wendet sich z.B. gegen die Versklavung des Menschen durch gesetzliche Ordnung. Er durchbricht das heilige Sabbathgebot, indem er einen Kranken heilt; und er rechtfertigt sein Handeln mit den Worten „Der Mensch ist nicht um des Sabbaths willen da, sondern der Sabbath um des Menschen willen”. Das Heil des Menschen ist ihm also mehr wert, als eine heilig gesprochene Ordnung, mag sie religiös, politisch oder sonstwie geartet sein. Wo die Ordnung dem Heil des Menschen entgegensteht, da durchbricht er sie, um Heil zu schaffen.

Das politische System des Dritten Reiches verlangte bedingungslosen Gehorsam gegenüber seiner proklamierten Ordnung. Es versklavte und mordete diejenigen, die sich dieser Ordnung widersetzten, weil sie aus besserer menschlicher Überzeugung nicht mitmachen konnten und wollten. Sie leisteten Widerstand und planten ein Neues. Der Widerstand gegen dieses unmenschliche System hat seine Rechtfertigung im Handeln Jesu, wo immer er gegen die Gewalt, den Terror und die Vernichtung des Menschen auftrat und sich für das Heil des Menschen einsetzte.

Mit der Ankündigung des Reiches Gottes tritt Jesu auch auf die Seite der Diskriminierten in der damaligen Gesellschaft. Er solidarisiert sich mit denen, die nach der herrschenden Ideologie als minderwertig galten. Er schließt sie nicht aus, sondern isst und trinkt mit ihnen und ruft sie in seine Gemeinschaft. Mit dieser Haltung widersteht er den herrschenden gesellschaftlichen und weltanschaulichen Vorurteilen, widersteht denen, die den Menschen nicht als Geschöpf Gottes achten, sondern seinen Wert vom sozialen Stand, von rassischer Zugehörigkeit oder ideologischen Konformismus abhängig machen.

Jeder Widerstand gegen ein politisches System, das gekennzeichnet ist durch Rassenfanatismus oder ideologische Diktatur, liegt durchaus auf der Linie des Handelns, das in Jesus von Nazareth bereits zur Tat wurde.

Es gibt gewiss noch mehr Berührungspunkte zwischen den Taten des Widerstandes und dem, was die Botschaft vom kommenden Reich anvisiert. Oftmals sind es nur die Schnittpunkte von zwei Linien, die sich kreuzen und dann wieder auseinander laufen. Zu einem großen Teil erscheint aber auch dieser politische Widerstand als ganz bewusster Schritt der Nachfolge Jesu, zumindest bei denen, die aus christlicher Glaubensüberzeugung jenem unmenschlichen System des Dritten Reiches ihren passiven und aktiven Widerstand entgegensetzten.

Ich sage das, um deutlich zu machen, dass die Botschaft vom kommenden Reich Gottes nicht in einem irrationalen Himmel konserviert werden darf. Sie ist eine auf die Geschichte unserer Welt bezogene Botschaft, und sie fordert geschichtliches Handeln heraus; geschichtliches Handeln, wie es auch in den Taten des Widerstandes im Zusammenhang des 20. Juli zum Tragen gekommen ist. Jene Männer und Frauen haben über soziale, politische und konfessionelle Grenzen hinweg das Ziel dieser Heilsbotschaft Jesu erkannt und alles dafür eingesetzt und dahingegeben. Für sie war der entdeckte „Schatz im Acker“ und die gefundene „kostbare Perle“ des zukünftigen Reiches Gottes mehr wert als persönliche Sicherheit und menschliche Angst.

Aber welchen Wert hat ein Gedenken an diese Männer und Frauen des Widerstandes für unsere heutige Zeit? Für die nachwachsende Generation liegt ihr Handeln bereits im Bereich einer Geschichte, die Vergangenheit geworden ist. Eine direkte Betroffenheit durch das damalige Geschehen ist somit ausgeschlossen. Erinnerung und Gedenken wecken bestenfalls Gefühle der Achtung oder auch der Bewunderung. Aber diese Gefühle transformieren sich nicht automatisch zu einer neuen Möglichkeit des Handelns, mit dem die Probleme einer neuen Zeit bewältigt werden können.

Und unsere Zeit steht vor neuen Problemen. Am Horizont unserer Geschichte zeichnen sich Gefahren ab, die unsere Welt in ein Chaos stürzen können, gegenüber denen die Katastrophe des Naziregimes und des letzten Weltkrieges sich ausnimmt wie ein Sandkastenspiel.

Unsere Menschheit vollzieht in den nächsten Jahrzehnten den Schritt zu einer weltweiten Urbanisierung, d.h. zu einer Verstädterung größten Stils. Unsere Erde steht im Begriff, sich in eine riesige Weltstadt zu verwandeln. Die Bevölkerung wächst lawinenartig an. Unsere Großstädte werden bis zum Ende des Jahrhunderts bereits zu riesigen Gebilden anschwellen. Die Generation, die heute geboren wird, wird noch erleben, dass in diesen Riesenmetropolen auf allen Kontinenten, vor allem aber auf den nichteuropäischen, Hunderte von Millionen Menschen zusammenleben müssen. Das ist nicht nur eine Frage der Zahl, sondern auch eine Frage der neuen sozialen Ordnung. Wer aber gibt diesen Menschenmassen das notwendige neue soziale Beziehungssystem?

Vor allem in den nicht industrialisierten Gebieten der Erde ist dieser Bevölkerungszuwachs am stärksten. Was sich bei uns vielleicht nur im Anwachsen der Mietpreise äußert, führt in den neuen Slums der Riesenmetropolen zu sozialen Explosionen und Katastrophen größten Ausmaßes. Denn in vielen Ländern, in denen unsere heutigen gesellschaftlichen Spielregeln gelten, verbreitert sich die Kluft zwischen den Besitzenden und Habenichtsen Schritt für Schritt. Aber in noch schnellerem Tempo verbreitert sich die Kluft zwischen den besitzenden Völkern und den Nationen der Habenichtse. Der heutige Kampf zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden muss als Kinderspiel erscheinen gegenüber den wachsenden weltweiten sozialen Spannungen, die unserer menschlichen Gesellschaft drohen.

Hinzu kommt der heute schon vorauszusehende leibliche Hunger. Bereits jetzt sterben jährlich mehr Menschen am Hungertod, als der ganze letzte Weltkrieg an Menschenleben forderte. Zwei Drittel der heute lebenden Weltbevölkerung hungert oder vegetiert unter dem Existenzminimum. Um den gegenwärtigen Lebensstandard aufrechtzuerhalten, müsste die gesamte Nahrungsproduktion der Welt bis zum Jahre 1990 verdoppelt und bis zum Jahr 2000 verdreifacht werden. Die technischen Möglichkeiten sind vorhanden. Aber es gibt bis heute keine ernsthaften Anzeichen dafür, dass die Industrienationen diese Aufgabe überhaupt lösen wollen.

Hunger aber bedeutet nicht einfach Tod, sondern zugleich auch politisches Chaos und soziale Auflösung menschlichen Zusammenlebens. Die bisherige Entwicklung der Menschheit scheint weithin restaurativ programmiert und manipuliert zu sein. Wo sind die Menschen, die den Weitblick für die bedrohliche Entwicklung endlich bekommen und zur Tat schreiten? Wo sind die verantwortlichen Christen, die hier den restaurativen Tendenzen der Welt widerstehen und für die Zukunft planen?

Heute streiten sich die Parteien und Systeme noch um nationale Eigeninteressen, um Gewaltverzichtsabkommen, um Bildungs- und Wirtschaftsreformen im eigenen Haus. Gewiss lassen sich diese Schwierigkeiten nicht einfach überspringen. Aber während sich die Familie in ihrer kleinstaatlichen Wohnung noch streitet, rollt von außen die Welle des Hungers und einer weltweiten sozialen Revolution heran. Da hilft keine Flucht in irgendeine religiöse oder politische Idylle. Da erzwingt die sich draußen veränderte Situation unabdingbar eine Entscheidung, durch die die Zukunft positiv oder negativ, menschlich oder unmenschlich gestaltet wird. Vielleicht erzwingt sie diese Entscheidung zu einer Stunde, in der es schon zu spät ist, eine Katastrophe abzuwenden. Das wäre dann eine merkwürdige Parallele zum Widerstand im Dritten Reich, wo auch die Zeit nur noch erlaubte, ein Zeichen zu setzen, aber die Katastrophe nicht mehr verhindert werden konnte.

Damals ging es denen, die Widerstand leisteten, um eine Wendung innerhalb der Politik ihrer eigenen Nation. Heute schickt sich die Menschheit an, eine große Weltgesellschaft zu werden. Gefragt sind nicht nationale Eigeninteressen, sondern eine verantwortungsbewusste Weltinnenpolitik. Gefragt sind gleichwertige Chancen, für alle Völker, auch für die in Indien oder Lateinamerika. Gefragt sind Menschen, die jedem Vorurteil, sei es rassisch, national, religiös oder kulturell gefärbt, entgegentreten, auch dann, wenn es noch gar nicht opportun erscheint; Menschen, die die Verheißung des künftigen Friedensreiches Gottes entdeckt haben und im Sinne dieses Reiches die Welt verändern wollen.

Wir Menschen werden dieses Reich des Friedens nicht selber vollenden. Seine Vollendung bleibt der Zukunft Gottes anheim gestellt. Aber wir können im Namen dieses Reiches und nach den Zielvorstellungen dieses Reiches, die uns Jesus gegeben hat, schon heute handeln. Wir können eintreten für die Versöhnung der Völker, für eine Barmherzigkeit im Sinne weltweiter sozialer Gerechtigkeit, für bildungspolitische Reformen größten Ausmaßes, die den Menschen frei machen von der Manipulation der Apparate und Mächtigen, frei zur Verantwortung für den gesellschaftlichen Frieden.

Wer ein großes Ziel vor Augen hat, wagt auch einen großen Einsatz. So steht es jedenfalls im Gleichnis Jesu, und so haben es uns die Männer und Frauen des Widerstandes beispielhaft bezeigt. Das Reich Gottes ist nicht nur ein großes Ziel; es ist auch das gute Ziel der Schöpfung Gottes. Je mehr wir von diesem Ziel erkennen, umso williger werden wir den jeweils unmenschlichen Verhältnissen Widerstand entgegensetzen, umso tatkräftiger kann jeder, der den Schatz im Acker oder die kostbare Perle entdeckt hat, sein ganzes Leben einsetzen, um diesem Ziel einen Schritt näher zu kommen. Von der Tat, die diesem Schritt auf das große Ziel hin entspricht, schreibt Dietrich Bonhoeffer in seinem Gedicht „Stationen auf dem Weg zur Freiheit”:

„Nicht das Beliebige, sondern das Rechte tun und wagen,

nicht im Möglichen schweben, das Wirkliche tapfer ergreifen,

nicht in der Flucht der Gedanken, allein in der Tat ist die Freiheit.

Tritt aus ängstlichem Zögern heraus in den Sturm des Geschehens,

nur von Gottes Gebot und Deinem Glauben getragen,

und die Freiheit wird deinen Geist jauchzend empfangen.”

Amen.






Weitere Reden