"Nichts vermag uns von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, zu trennen."

Domvikar Riedel

„Nichts vermag uns von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, zu trennen.“

Predigt des Domvikars Riedel am 20. Juli 1970 im evangelisch-katholischen Wortgottesdienst in der Sühne-Christi-Kirche, Berlin

Predigttext: 1. Römer 8, 31-39

Liebe, zum Gedenken des 20. Juli versammelte Gemeinde, liebe Brüder und Schwestern,

es fällt uns schwer, heute noch gebührend der Blutzeugen des 20. Juli und der vielen anderen zu gedenken, die um ihrer persönlichen Überzeugung willen unter dem Naziregime hingerichtet wurden. Wer vermag sich noch geziemend der letzten Jahre der Hitler-Zeit voll bewusst zu werden, der Nöte, Ängste, Drangsale, Leiden Einzelner, die auf sie von außen und innen zukamen. Ganz zu schweigen von den Grausamkeiten, die die Blutzeugen in der Zeit vor ihrer Hinrichtung zu durchzustehen hatten.

Stehen wir nicht heute in der Gefahr, den Anruf des 20. Juli in unsere Zeit zu überhören? Heute wird viel von den 70er Jahren, vom Jahr 2000 gesprochen. Schon die 60er Jahre sind vorbei, gehören der Geschichte an. Wer spricht noch von den 40er Jahren? Man spricht vom Fortschritt, dem großen Zauberwort; doch – wir dürfen es nicht übersehen – es gibt auch einen Fortschritt in Vernichtungs- und Henkermethoden.

Plötzensee bleibt für unsere Stadt ein Mahnmal dafür, zu welcher Unmenschlichkeit der Mensch fähig war, und zu welcher Unmenschlichkeit der Mensch vor Vollendung der Welt, vor der Wiederkunft Christi, fähig bleibt. Als Zeichen der Hoffnung und Zuversicht für eine heile Welt bleibt uns nur eines: Das Kreuz und das Zeugnis von Männern und Frauen in der je verschieden gearteten Nachfolge Christi im Zeichen des Kreuzes und aus der Kraft des Auferstandenen.

Auf dem Hintergrund der grausamen Ereignisse von Plötzensee lassen Sie mich die Frohe Botschaft verkünden, wie sie uns der Apostel Paulus in der Lesung aus dem Römerbrief aufgeschrieben hat.

„Wenn Gott für uns ist, wer ist dann wider uns?“

„Wer will uns scheiden von der Liebe Christi?“

Alles zählt Paulus auf: Trübsal, Bedrängnis, Verfolgung, Hunger, Blöße, Gefahr, Schwert, Tod, die Gewalt der kosmischen Mächte. Und doch muss er bekennen:

„Nichts vermag uns von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, zu trennen.“

Es mag Menschen geben, denen dieser Text unverständlich, romantisch, naiv

gläubig vorkommt. Er mutet ihnen an wie ein billiger Trost. Aus diesem Text aber spricht das Geheimnis und zugleich die Torheit des Kreuzes. Paulus wusste, dass nur dem Glaubenden der Zugang zu einem Verständnis des Kreuzes geschenkt wird, ja, dass der Weg zur Erkenntnis dieses Kreuzes einer oft langen und schweren Lehrzeit gleichkommt. Paulus hat diese Lehrzeit durchgemacht in Verleumdung, Verfolgung und Gefangenschaft (zuletzt auch sogar in der Hinrichtung durch das Schwert). Und doch schreibt er in seinem Brief an die Galater:

„Ich jedoch will mich nicht rühmen, es sei denn, im Kreuz unseres Herrn Jesus Christus.“

In diesem Kreuz ist für Paulus alle Zuversicht und alle Kraft verborgen. Lassen wir einmal das Zeichen des Kreuzes mit seinen beiden Balken zu uns sprechen: Da ist der lange vertikale, nach oben gerichtete Balken und der kürzere horizontale, waagerecht zur Erde liegende Balken. Unsere Verse aus dem Römerbrief lassen im Blick auf den vertikalen Balken erkennen, dass das Entscheidende für die Hoffnung und Kraft des Glaubenden die Gewissheit um die Liebe Gottes ist. Mag auch das eigene Vermögen schwach und ohnmächtig sein, von dieser Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, können wir nicht getrennt werden. In ihr liegt das Heil der Welt begründet. Dies könnte der vertikale Balken, der nach oben gerichtet ist, aussagen. Der horizontale, waagerecht zur Erde liegende Balken gehört auch zum Kreuz. Er kann versinnbilden unseren begrenzten und doch von uns geforderten Einsatz für die Welt, für die Menschheit, unsere Hingabe an den Bruder, die Schwester; er kann auch versinnbilden das Unverstandensein, Verleumdung und Verfolgung um Gottes willen, ja das „zur scheinbaren Erfolglosigkeit Verurteiltsein“. Aber dieser Balken wird überragt von dem anderen, dem nach oben gerichteten, der in seiner Bedeutsamkeit für den, der glaubt, und für die Welt den Ausschlag gibt.

Die Lehrzeit des Glaubens für Paulus und seine Erfahrungen mit Christus in der Kirche und mitten in der Welt haben ihn zu einer tiefen Gewissheit kommen lassen, so dass er in seinem Brief – im Wissen um das Kreuz – den vorhin gehörten Hymnus auf die Liebe Gottes im Römerbrief zu schreiben vermochte: „Wenn Gott für uns ist, wer kann dann wider uns sein?“.

Die Lehrzeit des Glaubens, die Erfahrungen mit Christus in der Kirche mitten in der Welt, wurden zu allen Zeiten von Menschen durchlaufen. Einzelne traten besonders eindringlich hervor zum Zeichen für andere. In unserer Stadt sind es wohl vor allem die Männer und Frauen, die in Plötzensee hingerichtet wurden. Viele Zeugnisse aus Aufzeichnungen für ihre Lehrzeit im Glauben könnten hier aufgeführt werden. Lassen Sie mich ein Zeugnis vorlesen aus den Gefängnisaufzeichnungen von Pastor Alfred Delp über die „Vater-unser-Bitte”: „Führe uns nicht in Versuchung.“ Das Thema des Römerbriefes klingt hier an auf einem sehr realistischen Hintergrund. Im letzten Satz wird hörbar, was wir von dem vertikalen Kreuzbalken sagten: „Diese Bitte – führe uns nicht in Versuchung – sollen wir ernsthaft beten. Der Herr wusste, was Anfechtung ist und welcher Zerreißprobe der Mensch in der Anfechtung ausgesetzt werden kann. Und wer ist seiner sicher? In den „schönen Tagen“ überhören wir diese Bitte leicht als für uns nicht aktuell. Bis auf einmal die schönen Tage vorbei sind und man gar nicht mehr weiß, aus wie viel Windrichtungen die Stürme zugleich losgebrochen sind. Die Anfechtung überfällt uns von außen und von innen. Die Macht, die Gewalt, der Schmerz, die erlebte Erniedrigung, das eigene Versagen, der schweigende Gott, die äußerste Hilflosigkeit: Das alles kann bittere Entscheidungen fordern. Es kann dann von innen die Angst dazukommen, jenes schleichende Gewürm, das jede Menschensubstanz auffrisst. Es kann die Dämonie von innen losbrechen, die Wildheit, die Empörung, der Zweifel, der Lebenswille, der nicht von sich weg will. Das alles kann bittere Stunden bereiten, und die Welt ist nachher anders, als sie vorher war. Die Haut ist gegerbt, trägt Narben und Wunden.

Die einzige Chance, diese Stunden zu bestehen, ist der Herrgott und dass man sich nicht freiwillig in sie begeben hat. Der Herr heißt uns bitten, dass diese Stunden uns erspart bleiben. Ich rate allen, diese Bitte ernst zu nehmen.

Der Mensch muss auf alle falsche Sicherheit verzichten, und er wird der großen Ruhe und Überlegenheit des Herrgotts teilhaftig.

Das Kreuz Christi also und seine Nachfolge und sein Heil für die Welt bleiben aktuell, wenngleich die Torheit und das Geheimnis des Kreuzes nicht aufgehoben sind. Nach den Überlegungen zu unserem Schrifttext stellen sich jedem von uns zwei Fragen am heutigen Gedenktag, dem 20. Juli:

1. Sehe ich die furchtbaren Ereignisse von Plötzensee letztlich auch in den Blutzeugen verwandelt zu heilbringender Frucht für die Welt trotz aller scheinbaren Sinnlosigkeit? In diesem Fall kann mein Gedenken eigentlich nicht Trauer, sondern muss Dankbarkeit gegen Gott sein, der durch das Kreuz seines Sohnes dieses Mitwirken von Menschen am Heil der Welt ermöglicht hat.

2. Wie wird für mich dort, wo ich wohne oder arbeite, das Zeugnis des Glaubens aussehen in unserer geschichtlichen Situation, damit auch mein Zeugnis für die Welt und für meine Angehörigen zum Heil wird? Hierbei wird von der realistischen Position des Christen ausgegangen, dass manches oder auch vieles, was um uns, in uns und in der Welt geschieht, unheilvoll ist, und dass wir heute wie in der Nazizeit das Glaubenszeugnis Einzelner brauchen, das vor dem Kreuz nicht flieht, zum Heil der Welt.






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20.07.1970
Pfarrer Gerlach