Eine Mahnung zur Wachsamkeit

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Georg Kronawitter

Eine Mahnung zur Wachsamkeit

Gedenkrede des Münchner Oberbürgermeisters Georg Kronawitter am 20. Juli 1973 im Herkulessaal der Residenz in München

Zwischen dem Versuch eines Aufstandes gegen Hitler am 20. Juli 1944 und dem heutigen Tag liegen 29 Jahre. Die damaligen Ereignisse sind nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft in vielen Feierstunden, Gedenkveranstaltungen und Kongressen dargestellt, erörtert und gewertet worden. Der historische Ablauf und die Motive der Beteiligten sind bekannt und wissenschaftlich gesichert.

Wie lässt sich also heute eine Feier zum 20. Juli noch so begründen, dass sie für eine Generation Aussagewert besitzt, die weder diesen Tag noch die Entwicklung, die zu ihm führte, miterlebt hat?

Vor allem eines: Die Bedeutung des 20. Juli 1944 geht über das damalige tatsächliche Geschehen weit hinaus. Wir gedenken nicht nur eines Attentatsversuchs und nicht nur einer Gruppe entschlossener Menschen, die ihrem Gewissen und der Vernunft folgten und dem Dritten Reich ein Ende bereiten wollten. Der 20. Juli 1944 hat den Widerstand gegen Hitler in Deutschland sichtbar werden lassen, einen Widerstand, der über die Kreise des 20. Juli weit hinaus ging.

Wir müssen also an diesem Tage gerade in München auch des 22. Februar 1943 gedenken, an dem die Geschwister Hans und Sophie Scholl und Christian Probst wegen der Flugblätter der „Weißen Rose“ hingerichtet wurden oder des 9. November 1939, an dem Georg Elser versuchte, Hitler im Münchener Bürgerbräukeller zu töten.

Aber am 20. Juli 1944 - und auch das sollte uns bewusst sein - war Hitler bereits über 11 Jahre an der Macht, waren die Verbrechen des Nationalsozialismus in Deutschland und in den besetzten europäischen Ländern bereits 11 Jahre lang eskaliert hin zu einem unvorstellbaren Ausmaß des Terrors und des Grauens.

Gewiss, schon 1933 hatten sich die verantwortungsbewussten Demokraten zum Widerstand gegen Hitler gefunden: aber wie leicht war angesichts der Gleichgültigkeit der breiten Massen und des Fanatismus in den ersten Jahren den Nationalsozialisten die Unterdrückung aller gefallen, die sich gegen sie gewehrt hatten; und wie lange hatte es gedauert, bis der Widerstand eine Basis gefunden hatte, die ihm die Tat erlaubte.

Deshalb ist der 20. Juli nicht nur ein Gedenktag. Er ist eine Mahnung zur Wachsamkeit, die nicht oft genug wiederholt werden kann. Eine Mahnung, wie gefährlich leicht sich eine Gesellschaft auseinanderdividieren lässt in Betroffene und in Unbeteiligte, die bereit sind zuzuschauen, solange sie sich nicht ihrer eigenen Haut wehren müssen, und die nicht begreifen, dass es für sie sehr rasch zu spät sein kann.

Der 20. Juli mahnt dazu, sich nicht mit der passiven Rolle des Zuschauers zu begnügen und sich nicht auf andere zu verlassen. Jeder engagierte Demokrat ist dazu aufgerufen, sich um die Entwicklung in unserem Staat zu kümmern, jeder Bedrohung der Demokratie und der Menschenrechte frühzeitig Widerstand entgegenzusetzen und dafür zu sorgen, dass dieses demokratische Staatswesen seine zerstörungswilligen Gegner in die Schranken weist und alle Bürger vor Übergriffen schützt.

Terror und Gewalt sind keine ferne historische Erfahrung, die zu den Akten gelegt werden könnte. Sie sind eine Bedrohung, der stets aufs Neue begegnet und in ihren Anfängen gewehrt werden muss.

Diese Wachsamkeit, dieser Einsatz für die Demokratie und die Menschenrechte sind eine Verpflichtung der Lebenden gegenüber denen, die im Dritten Reich im Widerstand gegen die Unmenschlichkeit in ganz Europa ihr Leben gegeben haben.

Unsere Aufgabe ist es, ihr Vermächtnis zu erfüllen. Und hieraus leitet diese heutige Feierstunde wohl ihre tiefste Berechtigung: Die Toten zu ehren und ihrer zu gedenken im Bewusstsein, dass ihre Taten nicht an Wert verloren haben und dass sie beigetragen haben zu der besseren Welt, in der wir heute leben dürfen.






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